Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778.des Nächsten. Zunge in dieser Verbindung, wie es hier steht,eigentlich soviel heist als Sprache; und ist dem- nach die Meinung Pauli diese: Wenn ich gleich alle mögliche Sprachen in der Welt nicht nur ver- stünde, sondern auch reden könnte; noch mehr, wenn ich eine so übermenschliche Wissenschaft besäße, daß ich auch die Sprache der Engel verstünde, es fehlte mir aber die Liebe, ein wohlwollendes, men- schenfreundliches Herz, ein beständiges Bestreben meine Gaben zum Besten anderer Menschen anzu- wenden -- wenn mir dieß fehlte, so wäre ich ein unbrauchbarer, verachtenswürdiger Mensch bey allen diesen dem äußerlichen Ansehen nach so glän- zenden Vorzügen. Ich wäre gleich einen tönenden Erz, oder einem ehernen Gefäß, welches zwar ei- nen Ton von sich giebt, wenn man an dasselbe schlägt, wovon aber kein Mensch Nutzen oder Ver- gnügen hat; ich wäre gleich einer klingenden Schel- le, oder einer Cymbel, die zwar einen starken Laut von sich giebt, aber nicht eher als wann sie gerührt wird; die weder des Tadels noch des Lobes fähig ist. Andere Menschen würden mich zwar wegen meiner außerordentlichen Sprachkenntniße bewun- dern, aber niemand würde einen Nutzen davon haben, wenn ich sie nicht auch geschickt zum Vor- theil anderer anwendete. Ferner: Wenn ich weißagen, und das so
des Nächſten. Zunge in dieſer Verbindung, wie es hier ſteht,eigentlich ſoviel heiſt als Sprache; und iſt dem- nach die Meinung Pauli dieſe: Wenn ich gleich alle mögliche Sprachen in der Welt nicht nur ver- ſtünde, ſondern auch reden könnte; noch mehr, wenn ich eine ſo übermenſchliche Wiſſenſchaft beſäße, daß ich auch die Sprache der Engel verſtünde, es fehlte mir aber die Liebe, ein wohlwollendes, men- ſchenfreundliches Herz, ein beſtändiges Beſtreben meine Gaben zum Beſten anderer Menſchen anzu- wenden — wenn mir dieß fehlte, ſo wäre ich ein unbrauchbarer, verachtenswürdiger Menſch bey allen dieſen dem äußerlichen Anſehen nach ſo glän- zenden Vorzügen. Ich wäre gleich einen tönenden Erz, oder einem ehernen Gefäß, welches zwar ei- nen Ton von ſich giebt, wenn man an daſſelbe ſchlägt, wovon aber kein Menſch Nutzen oder Ver- gnügen hat; ich wäre gleich einer klingenden Schel- le, oder einer Cymbel, die zwar einen ſtarken Laut von ſich giebt, aber nicht eher als wann ſie gerührt wird; die weder des Tadels noch des Lobes fähig iſt. Andere Menſchen würden mich zwar wegen meiner außerordentlichen Sprachkenntniße bewun- dern, aber niemand würde einen Nutzen davon haben, wenn ich ſie nicht auch geſchickt zum Vor- theil anderer anwendete. Ferner: Wenn ich weißagen, und das ſo
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0203" n="191"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">des Nächſten.</hi></fw><lb/><hi rendition="#fr">Zunge</hi> in dieſer Verbindung, wie es hier ſteht,<lb/> eigentlich ſoviel heiſt als <hi rendition="#fr">Sprache;</hi> und iſt dem-<lb/> nach die Meinung Pauli dieſe: Wenn ich gleich<lb/> alle mögliche Sprachen in der Welt nicht nur ver-<lb/> ſtünde, ſondern auch reden könnte; noch mehr,<lb/> wenn ich eine ſo übermenſchliche Wiſſenſchaft beſäße,<lb/> daß ich auch die Sprache der Engel verſtünde, es<lb/> fehlte mir aber die Liebe, ein wohlwollendes, men-<lb/> ſchenfreundliches Herz, ein beſtändiges Beſtreben<lb/> meine Gaben zum Beſten anderer Menſchen anzu-<lb/> wenden — wenn mir dieß fehlte, ſo wäre ich ein<lb/> unbrauchbarer, verachtenswürdiger Menſch bey<lb/> allen dieſen dem äußerlichen Anſehen nach ſo glän-<lb/> zenden Vorzügen. Ich wäre gleich einen <hi rendition="#fr">tönenden<lb/> Erz,</hi> oder einem ehernen Gefäß, welches zwar ei-<lb/> nen Ton von ſich giebt, wenn man an daſſelbe<lb/> ſchlägt, wovon aber kein Menſch Nutzen oder Ver-<lb/> gnügen hat; ich wäre gleich einer klingenden Schel-<lb/> le, oder einer Cymbel, die zwar einen ſtarken Laut<lb/> von ſich giebt, aber nicht eher als wann ſie gerührt<lb/> wird; die weder des Tadels noch des Lobes fähig<lb/> iſt. Andere Menſchen würden mich zwar wegen<lb/> meiner außerordentlichen Sprachkenntniße bewun-<lb/> dern, aber niemand würde einen Nutzen davon<lb/> haben, wenn ich ſie nicht auch geſchickt zum Vor-<lb/> theil anderer anwendete.</p><lb/> <p>Ferner: <hi rendition="#fr">Wenn ich weißagen,</hi> und das<lb/> Künftige genau vorher: herſagen könnte; und<lb/> wüſte alle Geheimniße, Wahrheiten die bisher<lb/> kein Menſch hat wißen können, und die man auch<lb/> nicht anders als aus göttlicher Eingebung wißen kan;<lb/><hi rendition="#fr">ich hätte alle Erkenntnis und allen Glauben,</hi><lb/> <fw place="bottom" type="catch"><hi rendition="#fr">ſo</hi></fw><lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [191/0203]
des Nächſten.
Zunge in dieſer Verbindung, wie es hier ſteht,
eigentlich ſoviel heiſt als Sprache; und iſt dem-
nach die Meinung Pauli dieſe: Wenn ich gleich
alle mögliche Sprachen in der Welt nicht nur ver-
ſtünde, ſondern auch reden könnte; noch mehr,
wenn ich eine ſo übermenſchliche Wiſſenſchaft beſäße,
daß ich auch die Sprache der Engel verſtünde, es
fehlte mir aber die Liebe, ein wohlwollendes, men-
ſchenfreundliches Herz, ein beſtändiges Beſtreben
meine Gaben zum Beſten anderer Menſchen anzu-
wenden — wenn mir dieß fehlte, ſo wäre ich ein
unbrauchbarer, verachtenswürdiger Menſch bey
allen dieſen dem äußerlichen Anſehen nach ſo glän-
zenden Vorzügen. Ich wäre gleich einen tönenden
Erz, oder einem ehernen Gefäß, welches zwar ei-
nen Ton von ſich giebt, wenn man an daſſelbe
ſchlägt, wovon aber kein Menſch Nutzen oder Ver-
gnügen hat; ich wäre gleich einer klingenden Schel-
le, oder einer Cymbel, die zwar einen ſtarken Laut
von ſich giebt, aber nicht eher als wann ſie gerührt
wird; die weder des Tadels noch des Lobes fähig
iſt. Andere Menſchen würden mich zwar wegen
meiner außerordentlichen Sprachkenntniße bewun-
dern, aber niemand würde einen Nutzen davon
haben, wenn ich ſie nicht auch geſchickt zum Vor-
theil anderer anwendete.
Ferner: Wenn ich weißagen, und das
Künftige genau vorher: herſagen könnte; und
wüſte alle Geheimniße, Wahrheiten die bisher
kein Menſch hat wißen können, und die man auch
nicht anders als aus göttlicher Eingebung wißen kan;
ich hätte alle Erkenntnis und allen Glauben,
ſo
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/203 |
Zitationshilfe: | Rosenmüller, Johann Georg: Betrachtungen über auserlesene Stellen der Heil. Schrift zur häuslichen Erbauung. Nürnberg, 1778, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenmueller_betrachtungen_1789/203>, abgerufen am 18.07.2024. |