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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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anschließend, zu sehr sich darauf verließ, daß das erklärende
Wort derselben ihren schwankenden, problematischen Gestalten
zu Hülfe käme. -- In der Poesie finden wir nach dem Auf¬
treten großer Genien sehr häufig eine Periode der Nachahmer,
bei denen die Gestaltlosigkeit grassirt. Im Epischen neigt sie
zu der Schlegelschen Theorie, daß die Handlung, als ein
bloßes Fragment aus einem größern Zusammenhange, in's
Unendliche ohne innere Einheit fortlaufen könne. Im Lyri¬
schen kennzeichnet sie sich gewöhnlich durch ein Uebermaaß
von Prädicaten, mit denen sie die Subjecte ausstattet. In¬
dem das eine Prädicat immer das andere erdrückt, entsteht
durch solche Ueberfülle statt des beabsichtigten reichen Bildes
eine nichtssagende Vollständigkeit, die das Unwesentliche mit
dem Wesentlichen vermischt. Im Dramatischen huldigt sie
dem sogenannten dramatischen Gedicht, das nämlich
von der Aufführbarkeit a priori abstrahirt, daher principiell
auf eigentliche Handlung, auf Durchführung der Charaktere,
auf Wahrscheinlichkeit verzichtet und oft nur eine lockere
Reihe lyrischer Monologe enthält. Da bei uns Deutschen,
weil wir uns nicht als Nation fühlen und folglich auch keine
Nationalbühne haben, leider zwei Drittel unserer dramatischen
Productionen aus solchen theatralisch unmöglichen reinen
Dramen bestehen, so ist es überflüssig, besondere Beispiele
hier namhaft zu machen. Wenn Göthe oft als der be¬
züchtigt wird, von welchem dies Unwesen stamme, weil er
den Faust gedichtet, so ist dies irrig, denn der Faust hat
die theatralische Probe in seinem ersten Theil glänzend be¬
standen, und der zweite, wenn nur erst auch zu ihm die
nöthige Musik componirt wäre, wird sie auch bestehen, denn
er ist nicht weniger theatralisch gedacht und opernbühnen¬
mäßig gearbeitet.

anſchließend, zu ſehr ſich darauf verließ, daß das erklärende
Wort derſelben ihren ſchwankenden, problematiſchen Geſtalten
zu Hülfe käme. — In der Poeſie finden wir nach dem Auf¬
treten großer Genien ſehr häufig eine Periode der Nachahmer,
bei denen die Geſtaltloſigkeit graſſirt. Im Epiſchen neigt ſie
zu der Schlegelſchen Theorie, daß die Handlung, als ein
bloßes Fragment aus einem größern Zuſammenhange, in's
Unendliche ohne innere Einheit fortlaufen könne. Im Lyri¬
ſchen kennzeichnet ſie ſich gewöhnlich durch ein Uebermaaß
von Prädicaten, mit denen ſie die Subjecte ausſtattet. In¬
dem das eine Prädicat immer das andere erdrückt, entſteht
durch ſolche Ueberfülle ſtatt des beabſichtigten reichen Bildes
eine nichtsſagende Vollſtändigkeit, die das Unweſentliche mit
dem Weſentlichen vermiſcht. Im Dramatiſchen huldigt ſie
dem ſogenannten dramatiſchen Gedicht, das nämlich
von der Aufführbarkeit a priori abſtrahirt, daher principiell
auf eigentliche Handlung, auf Durchführung der Charaktere,
auf Wahrſcheinlichkeit verzichtet und oft nur eine lockere
Reihe lyriſcher Monologe enthält. Da bei uns Deutſchen,
weil wir uns nicht als Nation fühlen und folglich auch keine
Nationalbühne haben, leider zwei Drittel unſerer dramatiſchen
Productionen aus ſolchen theatraliſch unmöglichen reinen
Dramen beſtehen, ſo iſt es überflüſſig, beſondere Beiſpiele
hier namhaft zu machen. Wenn Göthe oft als der be¬
züchtigt wird, von welchem dies Unweſen ſtamme, weil er
den Fauſt gedichtet, ſo iſt dies irrig, denn der Fauſt hat
die theatraliſche Probe in ſeinem erſten Theil glänzend be¬
ſtanden, und der zweite, wenn nur erſt auch zu ihm die
nöthige Muſik componirt wäre, wird ſie auch beſtehen, denn
er iſt nicht weniger theatraliſch gedacht und opernbühnen¬
mäßig gearbeitet.

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[73/0095] anſchließend, zu ſehr ſich darauf verließ, daß das erklärende Wort derſelben ihren ſchwankenden, problematiſchen Geſtalten zu Hülfe käme. — In der Poeſie finden wir nach dem Auf¬ treten großer Genien ſehr häufig eine Periode der Nachahmer, bei denen die Geſtaltloſigkeit graſſirt. Im Epiſchen neigt ſie zu der Schlegelſchen Theorie, daß die Handlung, als ein bloßes Fragment aus einem größern Zuſammenhange, in's Unendliche ohne innere Einheit fortlaufen könne. Im Lyri¬ ſchen kennzeichnet ſie ſich gewöhnlich durch ein Uebermaaß von Prädicaten, mit denen ſie die Subjecte ausſtattet. In¬ dem das eine Prädicat immer das andere erdrückt, entſteht durch ſolche Ueberfülle ſtatt des beabſichtigten reichen Bildes eine nichtsſagende Vollſtändigkeit, die das Unweſentliche mit dem Weſentlichen vermiſcht. Im Dramatiſchen huldigt ſie dem ſogenannten dramatiſchen Gedicht, das nämlich von der Aufführbarkeit a priori abſtrahirt, daher principiell auf eigentliche Handlung, auf Durchführung der Charaktere, auf Wahrſcheinlichkeit verzichtet und oft nur eine lockere Reihe lyriſcher Monologe enthält. Da bei uns Deutſchen, weil wir uns nicht als Nation fühlen und folglich auch keine Nationalbühne haben, leider zwei Drittel unſerer dramatiſchen Productionen aus ſolchen theatraliſch unmöglichen reinen Dramen beſtehen, ſo iſt es überflüſſig, beſondere Beiſpiele hier namhaft zu machen. Wenn Göthe oft als der be¬ züchtigt wird, von welchem dies Unweſen ſtamme, weil er den Fauſt gedichtet, ſo iſt dies irrig, denn der Fauſt hat die theatraliſche Probe in ſeinem erſten Theil glänzend be¬ ſtanden, und der zweite, wenn nur erſt auch zu ihm die nöthige Muſik componirt wäre, wird ſie auch beſtehen, denn er iſt nicht weniger theatraliſch gedacht und opernbühnen¬ mäßig gearbeitet.

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/95>, abgerufen am 27.04.2024.