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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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lösung kann schön sein, weil mit ihr das Werden als Ver¬
gehen, also ein Unterscheiden verbunden ist, wenngleich dies
Unterscheiden in das Nichts übergeht. Das Anziehende dieses
Phänomens besteht eben darin, daß mit der Gestalt zugleich
das Werden der Gestaltlosigkeit, das reine Uebergehen in An¬
deres, vorhanden ist Man stelle sich ein Gebirge vor, dessen
waldgekrönte Häupter in den Duft der Ferne träumerisch
verdämmern. Man stelle sich den Schaum eines Wogen¬
sturzes vor, dessen aufspritzenden, zerflatternden Gischt der
Wirbelsturm mit rasendem Jauchzen in die Lüfte fortschleudert,
so ist der Uebergang der kaum entstandenen Wassersäule in
den Untergang schön. Oder man stelle sich einen Ton vor,
der, als Ton sich gleich, allmälig verhallt, so ist dies Ver¬
klingen schön. Verglichen mit der Oede der änderunglosen
Gleichheit ist alle Bewegung, auch die des Vergehens, schön.
Was aber in solcher Weise schön ist, wird häßlich, wenn die
Auflösung da eintritt, wo sie nicht sein sollte, wo wir viel¬
mehr die Bestimmtheit und Abgeschlossenheit der Gestalt zu
erwarten hätten, wo also die Gestalt, statt durch ein solches
Aufheben ihrer selbst zu gewinnen, verstört, verwaschen und
verblasen wird. Es entsteht dann das, was wir in der
Kunst das Nebulistische und Undulistische nennen, der
Mangel an Bestimmtheit, an Unterscheidung, wo sie doch
sein sollten. In der epischen und dramatischen Poesie kommt
dasselbe auch als Planlosigkeit zu Tage; in der Musik
nennen wir es mit einem euphemistischen Ausdruck das Wilde;
das Wilde kann nämlich auch, wie bei einer Schlachtmusik,
schön werden, als Tadel aber bezeichnet es die Formlosigkeit.
Das Schwanken und die Unsicherheit der Begrenzung wider¬
sprechen dem Begriff der Gestalt und dieser Widerspruch ist
häßlich. Die Unerfindsamkeit und die Kraftlosigkeit verbergen

löſung kann ſchön ſein, weil mit ihr das Werden als Ver¬
gehen, alſo ein Unterſcheiden verbunden iſt, wenngleich dies
Unterſcheiden in das Nichts übergeht. Das Anziehende dieſes
Phänomens beſteht eben darin, daß mit der Geſtalt zugleich
das Werden der Geſtaltloſigkeit, das reine Uebergehen in An¬
deres, vorhanden iſt Man ſtelle ſich ein Gebirge vor, deſſen
waldgekrönte Häupter in den Duft der Ferne träumeriſch
verdämmern. Man ſtelle ſich den Schaum eines Wogen¬
ſturzes vor, deſſen aufſpritzenden, zerflatternden Giſcht der
Wirbelſturm mit raſendem Jauchzen in die Lüfte fortſchleudert,
ſo iſt der Uebergang der kaum entſtandenen Waſſerſäule in
den Untergang ſchön. Oder man ſtelle ſich einen Ton vor,
der, als Ton ſich gleich, allmälig verhallt, ſo iſt dies Ver¬
klingen ſchön. Verglichen mit der Oede der änderungloſen
Gleichheit iſt alle Bewegung, auch die des Vergehens, ſchön.
Was aber in ſolcher Weiſe ſchön iſt, wird häßlich, wenn die
Auflöſung da eintritt, wo ſie nicht ſein ſollte, wo wir viel¬
mehr die Beſtimmtheit und Abgeſchloſſenheit der Geſtalt zu
erwarten hätten, wo alſo die Geſtalt, ſtatt durch ein ſolches
Aufheben ihrer ſelbſt zu gewinnen, verſtört, verwaſchen und
verblaſen wird. Es entſteht dann das, was wir in der
Kunſt das Nebuliſtiſche und Unduliſtiſche nennen, der
Mangel an Beſtimmtheit, an Unterſcheidung, wo ſie doch
ſein ſollten. In der epiſchen und dramatiſchen Poeſie kommt
daſſelbe auch als Planloſigkeit zu Tage; in der Muſik
nennen wir es mit einem euphemiſtiſchen Ausdruck das Wilde;
das Wilde kann nämlich auch, wie bei einer Schlachtmuſik,
ſchön werden, als Tadel aber bezeichnet es die Formloſigkeit.
Das Schwanken und die Unſicherheit der Begrenzung wider¬
ſprechen dem Begriff der Geſtalt und dieſer Widerſpruch iſt
häßlich. Die Unerfindſamkeit und die Kraftloſigkeit verbergen

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[71/0093] löſung kann ſchön ſein, weil mit ihr das Werden als Ver¬ gehen, alſo ein Unterſcheiden verbunden iſt, wenngleich dies Unterſcheiden in das Nichts übergeht. Das Anziehende dieſes Phänomens beſteht eben darin, daß mit der Geſtalt zugleich das Werden der Geſtaltloſigkeit, das reine Uebergehen in An¬ deres, vorhanden iſt Man ſtelle ſich ein Gebirge vor, deſſen waldgekrönte Häupter in den Duft der Ferne träumeriſch verdämmern. Man ſtelle ſich den Schaum eines Wogen¬ ſturzes vor, deſſen aufſpritzenden, zerflatternden Giſcht der Wirbelſturm mit raſendem Jauchzen in die Lüfte fortſchleudert, ſo iſt der Uebergang der kaum entſtandenen Waſſerſäule in den Untergang ſchön. Oder man ſtelle ſich einen Ton vor, der, als Ton ſich gleich, allmälig verhallt, ſo iſt dies Ver¬ klingen ſchön. Verglichen mit der Oede der änderungloſen Gleichheit iſt alle Bewegung, auch die des Vergehens, ſchön. Was aber in ſolcher Weiſe ſchön iſt, wird häßlich, wenn die Auflöſung da eintritt, wo ſie nicht ſein ſollte, wo wir viel¬ mehr die Beſtimmtheit und Abgeſchloſſenheit der Geſtalt zu erwarten hätten, wo alſo die Geſtalt, ſtatt durch ein ſolches Aufheben ihrer ſelbſt zu gewinnen, verſtört, verwaſchen und verblaſen wird. Es entſteht dann das, was wir in der Kunſt das Nebuliſtiſche und Unduliſtiſche nennen, der Mangel an Beſtimmtheit, an Unterſcheidung, wo ſie doch ſein ſollten. In der epiſchen und dramatiſchen Poeſie kommt daſſelbe auch als Planloſigkeit zu Tage; in der Muſik nennen wir es mit einem euphemiſtiſchen Ausdruck das Wilde; das Wilde kann nämlich auch, wie bei einer Schlachtmuſik, ſchön werden, als Tadel aber bezeichnet es die Formloſigkeit. Das Schwanken und die Unſicherheit der Begrenzung wider¬ ſprechen dem Begriff der Geſtalt und dieſer Widerſpruch iſt häßlich. Die Unerfindſamkeit und die Kraftloſigkeit verbergen

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/93>, abgerufen am 28.04.2024.