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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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so gut, als die sclavische Correctheit, die über eine pein¬
liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht,
ästhetisch selber der Correctur bedarf.

Aber es versteht sich auch, daß ein selbstbewußtes Ab¬
weichen der Kunst von den durch die Natur gegebenen For¬
men behufs eines besondern ästhetischen Eindrucks oder in
phantastischen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf.
Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das
conventionelle Maaß selber aus, das sich als historischer Aus¬
druck einer Gestalt des Geistes fixirt. In ihrem Ursprung
wird eine solche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬
maaß, wenigstens mit einem reellen Bedürfniß, zusammen¬
hängen. Im Verlauf der Zeit kann sie sich aber auch weit
von der Natur entfernen, indem der Mensch, seine Freiheit
recht augenscheinlich zu verwirklichen, der Natur sogar oft
Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbarische Ver¬
stümmelungen und Veränderungen seines Körpers, durch
Knochen und Ringe, die er in der Nase und den Ohrläpp¬
chen oder Lippen befestigt, durch Tättowiren u. dgl., den
Trieb, sich von der Natur zu unterscheiden. Er ist nicht,
wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will
als Mensch seine Freiheit gegen sie zeigen. Die Völker ge¬
winnen bei einiger Dauer einen ganz absonderlichen Habitus
und eine fest ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen,
ihrem Local- und Nationalcharakter entsprechend, eigenthüm¬
liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthschaften
hervor. Hat nun die Kunst einen geschichtlichen Gegenstand
zu behandeln, so wird sie, correct zu sein, ihn nach seiner
positiven historisch gegebenen Form darzustellen haben. Auch
hier gilt es nicht eine scrupulose Akribie, aber doch eine
Beachtung dessen, was die Gestalt durch die Steigerung der

ſo gut, als die ſclaviſche Correctheit, die über eine pein¬
liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht,
äſthetiſch ſelber der Correctur bedarf.

Aber es verſteht ſich auch, daß ein ſelbſtbewußtes Ab¬
weichen der Kunſt von den durch die Natur gegebenen For¬
men behufs eines beſondern äſthetiſchen Eindrucks oder in
phantaſtiſchen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf.
Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das
conventionelle Maaß ſelber aus, das ſich als hiſtoriſcher Aus¬
druck einer Geſtalt des Geiſtes fixirt. In ihrem Urſprung
wird eine ſolche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬
maaß, wenigſtens mit einem reellen Bedürfniß, zuſammen¬
hängen. Im Verlauf der Zeit kann ſie ſich aber auch weit
von der Natur entfernen, indem der Menſch, ſeine Freiheit
recht augenſcheinlich zu verwirklichen, der Natur ſogar oft
Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbariſche Ver¬
ſtümmelungen und Veränderungen ſeines Körpers, durch
Knochen und Ringe, die er in der Naſe und den Ohrläpp¬
chen oder Lippen befeſtigt, durch Tättowiren u. dgl., den
Trieb, ſich von der Natur zu unterſcheiden. Er iſt nicht,
wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will
als Menſch ſeine Freiheit gegen ſie zeigen. Die Völker ge¬
winnen bei einiger Dauer einen ganz abſonderlichen Habitus
und eine feſt ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen,
ihrem Local- und Nationalcharakter entſprechend, eigenthüm¬
liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthſchaften
hervor. Hat nun die Kunſt einen geſchichtlichen Gegenſtand
zu behandeln, ſo wird ſie, correct zu ſein, ihn nach ſeiner
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[58/0080] ſo gut, als die ſclaviſche Correctheit, die über eine pein¬ liche Richtigkeit nicht zur idealen Wahrheit hinausgeht, äſthetiſch ſelber der Correctur bedarf. Aber es verſteht ſich auch, daß ein ſelbſtbewußtes Ab¬ weichen der Kunſt von den durch die Natur gegebenen For¬ men behufs eines beſondern äſthetiſchen Eindrucks oder in phantaſtiſchen Bildungen nicht als Incorrectheit gelten darf. Einen eigenthümlichen Kreis der Correctheit macht daher das conventionelle Maaß ſelber aus, das ſich als hiſtoriſcher Aus¬ druck einer Geſtalt des Geiſtes fixirt. In ihrem Urſprung wird eine ſolche Form mehr oder weniger mit einem Natur¬ maaß, wenigſtens mit einem reellen Bedürfniß, zuſammen¬ hängen. Im Verlauf der Zeit kann ſie ſich aber auch weit von der Natur entfernen, indem der Menſch, ſeine Freiheit recht augenſcheinlich zu verwirklichen, der Natur ſogar oft Gewalt anthut. Der Wilde zeigt durch barbariſche Ver¬ ſtümmelungen und Veränderungen ſeines Körpers, durch Knochen und Ringe, die er in der Naſe und den Ohrläpp¬ chen oder Lippen befeſtigt, durch Tättowiren u. dgl., den Trieb, ſich von der Natur zu unterſcheiden. Er iſt nicht, wie das Thier, mit der gegebenen Natur zufrieden; er will als Menſch ſeine Freiheit gegen ſie zeigen. Die Völker ge¬ winnen bei einiger Dauer einen ganz abſonderlichen Habitus und eine feſt ausgeprägte Sitte des Benehmens. Sie bringen, ihrem Local- und Nationalcharakter entſprechend, eigenthüm¬ liche Formen der Kleidung, Wohnung und Geräthſchaften hervor. Hat nun die Kunſt einen geſchichtlichen Gegenſtand zu behandeln, ſo wird ſie, correct zu ſein, ihn nach ſeiner poſitiven hiſtoriſch gegebenen Form darzuſtellen haben. Auch hier gilt es nicht eine ſcrupuloſe Akribie, aber doch eine Beachtung deſſen, was die Geſtalt durch die Steigerung der

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/80>, abgerufen am 27.04.2024.