Lessing, Göthe, Schiller, Varnhagen, Moritz Arndt, über ihn denken. Wegen des Jacques will ich hier nur bemerken, daß Diderot selbst über den Vorwurf des Cynischen sich darin verheidigt, Oeuvres, ed. Naigeon, XI., p. 333 ff. Man irrt sich, wenn man meint, daß in dem Fatalisten nur cynische Geschichten vorgetragen würden. Die tragische Geschichte der Marquise de la Pommeraye, welche die Wirthin erzählt, nimmt ein Drittel des Ganzen ein. Sie ist von Schiller unter dem Titel: Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache, in der Rheinischen Thalia, I., S. 27. ff. 1785, übersetzt. Das Thema, nämlich die Idee des Schicksals, des objectiven Zusammenhangs der Begebenheiten, wird gleich in den ersten Worten der Schrift, die man nur sehr uneigentlich einen Roman nennen kann, festgestellt. "Jacques disoit, que son capitaine disoit, que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici bas etoit ecrit la haut.
Le Maitre. C'est un grand mot que cela. Jacques. Mon capitaine ajoutoit, que chaque balle, qui partoit d'un fusil, avoit son billet.
(40) S. 206. Hauser's Bethlehemitischer Kindermord zeigt uns nur eine Versammlung unglücklicher Mütter, welche die Leichname ihrer Kinder, aus deren Wunden das Blut rieselt, anstarren. Diese Monotonie gibt dem schön gemalten Bilde etwas höchst Tristes, ja Langweiliges. Wie anders hat der alte Le Brun dies Sujet behandelt! Bei ihm sieht man auch getödtete Kinder, traurende Mütter, aber man sieht auch Mütter, welche ihre Kinder zu retten versuchen, welche den Kriegern sich entgegenwerfen, welche mit den Kriegern kämpfen. Man sieht, daß die Mutterliebe es den Soldaten, die sogar zu Pferde einhersprengen, mit Speeren nach den Kindern stoßen, nicht leicht macht, den entsetzlichen Befehl auszuführen. Ueberdem blickt man über einen weiten Raum hinweg. Ein großer offener Platz, im Hintergrund eine Brücke, auf welcher sich Soldaten und fliehende Weiber drängen, mannigfaltige Gruppen. Bei Hauser eine gefängni߬ artige Abschließung.
(41) S. 211. Hegel Aesthetik, III., 1838, S. 123. "Wir sehen deshalb keine gemeinen Empfindungen und Leidenschaften vor uns, sondern das Bäurische und Naturnahe in den untern Ständen, das froh, schalkhaft, komisch ist. In dieser unbekümmerten Ausge¬ lassenheit selber liegt hier das ideale Moment: es ist der Sonntag des Lebens, der Alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt; Menschen die so von ganzem Herzen wohlgemuth sind, können nicht
Leſſing, Göthe, Schiller, Varnhagen, Moritz Arndt, über ihn denken. Wegen des Jacques will ich hier nur bemerken, daß Diderot ſelbſt über den Vorwurf des Cyniſchen ſich darin verheidigt, Oeuvres, éd. Naigeon, XI., p. 333 ff. Man irrt ſich, wenn man meint, daß in dem Fataliſten nur cyniſche Geſchichten vorgetragen würden. Die tragiſche Geſchichte der Marquiſe de la Pommeraye, welche die Wirthin erzählt, nimmt ein Drittel des Ganzen ein. Sie iſt von Schiller unter dem Titel: Merkwürdiges Beiſpiel einer weiblichen Rache, in der Rheiniſchen Thalia, I., S. 27. ff. 1785, überſetzt. Das Thema, nämlich die Idee des Schickſals, des objectiven Zuſammenhangs der Begebenheiten, wird gleich in den erſten Worten der Schrift, die man nur ſehr uneigentlich einen Roman nennen kann, feſtgeſtellt. „Jacques disoit, que son capitaine disoit, que tout ce qui nous arrive de bien et de mal ici bas étoit écrit là haut.
Le Maitre. C'est un grand mot que cela. Jacques. Mon capitaine ajoutoit, que chaque balle, qui partoit d'un fusil, avoit son billet.
(40) S. 206. Hauſer's Bethlehemitiſcher Kindermord zeigt uns nur eine Verſammlung unglücklicher Mütter, welche die Leichname ihrer Kinder, aus deren Wunden das Blut rieſelt, anſtarren. Dieſe Monotonie gibt dem ſchön gemalten Bilde etwas höchſt Triſtes, ja Langweiliges. Wie anders hat der alte Le Brun dies Sujet behandelt! Bei ihm ſieht man auch getödtete Kinder, traurende Mütter, aber man ſieht auch Mütter, welche ihre Kinder zu retten verſuchen, welche den Kriegern ſich entgegenwerfen, welche mit den Kriegern kämpfen. Man ſieht, daß die Mutterliebe es den Soldaten, die ſogar zu Pferde einherſprengen, mit Speeren nach den Kindern ſtoßen, nicht leicht macht, den entſetzlichen Befehl auszuführen. Ueberdem blickt man über einen weiten Raum hinweg. Ein großer offener Platz, im Hintergrund eine Brücke, auf welcher ſich Soldaten und fliehende Weiber drängen, mannigfaltige Gruppen. Bei Hauſer eine gefängni߬ artige Abſchließung.
(41) S. 211. Hegel Aeſthetik, III., 1838, S. 123. „Wir ſehen deshalb keine gemeinen Empfindungen und Leidenſchaften vor uns, ſondern das Bäuriſche und Naturnahe in den untern Ständen, das froh, ſchalkhaft, komiſch iſt. In dieſer unbekümmerten Ausge¬ laſſenheit ſelber liegt hier das ideale Moment: es iſt der Sonntag des Lebens, der Alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt; Menſchen die ſo von ganzem Herzen wohlgemuth ſind, können nicht
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Leſſing, Göthe, Schiller, Varnhagen, Moritz Arndt, über ihn denken.
Wegen des Jacques will ich hier nur bemerken, daß Diderot ſelbſt
über den Vorwurf des Cyniſchen ſich darin verheidigt, Oeuvres, éd.
Naigeon, XI., p. 333 ff. Man irrt ſich, wenn man meint, daß in
dem Fataliſten nur cyniſche Geſchichten vorgetragen würden. Die
tragiſche Geſchichte der Marquiſe de la Pommeraye, welche die Wirthin
erzählt, nimmt ein Drittel des Ganzen ein. Sie iſt von Schiller
unter dem Titel: Merkwürdiges Beiſpiel einer weiblichen Rache, in
der Rheiniſchen Thalia, I., S. 27. ff. 1785, überſetzt. Das Thema,
nämlich die Idee des Schickſals, des objectiven Zuſammenhangs der
Begebenheiten, wird gleich in den erſten Worten der Schrift, die man
nur ſehr uneigentlich einen Roman nennen kann, feſtgeſtellt. „Jacques
disoit, que son capitaine disoit, que tout ce qui nous arrive de bien
et de mal ici bas étoit écrit là haut.
Le Maitre.
C'est un grand mot que cela.
Jacques.
Mon capitaine ajoutoit, que chaque balle, qui partoit d'un
fusil, avoit son billet.
(40) S. 206. Hauſer's Bethlehemitiſcher Kindermord zeigt
uns nur eine Verſammlung unglücklicher Mütter, welche die Leichname
ihrer Kinder, aus deren Wunden das Blut rieſelt, anſtarren. Dieſe
Monotonie gibt dem ſchön gemalten Bilde etwas höchſt Triſtes, ja
Langweiliges. Wie anders hat der alte Le Brun dies Sujet behandelt!
Bei ihm ſieht man auch getödtete Kinder, traurende Mütter, aber
man ſieht auch Mütter, welche ihre Kinder zu retten verſuchen, welche
den Kriegern ſich entgegenwerfen, welche mit den Kriegern kämpfen.
Man ſieht, daß die Mutterliebe es den Soldaten, die ſogar zu Pferde
einherſprengen, mit Speeren nach den Kindern ſtoßen, nicht leicht
macht, den entſetzlichen Befehl auszuführen. Ueberdem blickt man
über einen weiten Raum hinweg. Ein großer offener Platz, im
Hintergrund eine Brücke, auf welcher ſich Soldaten und fliehende
Weiber drängen, mannigfaltige Gruppen. Bei Hauſer eine gefängni߬
artige Abſchließung.
(41) S. 211. Hegel Aeſthetik, III., 1838, S. 123. „Wir
ſehen deshalb keine gemeinen Empfindungen und Leidenſchaften vor
uns, ſondern das Bäuriſche und Naturnahe in den untern Ständen,
das froh, ſchalkhaft, komiſch iſt. In dieſer unbekümmerten Ausge¬
laſſenheit ſelber liegt hier das ideale Moment: es iſt der Sonntag
des Lebens, der Alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt;
Menſchen die ſo von ganzem Herzen wohlgemuth ſind, können nicht
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/470>, abgerufen am 24.11.2024.
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