Türken, Buckelige, alle Arten Verwachsene, Zwerge, Musikanten, Pul¬ cinelle, antik costumirte Soldaten, Götter, Göttinnen, altfranzösich Gekleidete, Soldaten mit Patrontaschen und Gamaschen, Mythologie mit frazzenhaften Zuthaten: Achill und Chiron mit Pulcinell. Thiere: nur Theile derselben, Pferd mit Menschenhänden, Pferdekopf auf Menschen¬ körper, entstellte Affen, viele Drachen und Schlangen, alle Arten von Pfoten an Figuren aller Art, Verdoppelungen, Verwechselungen der Köpfe. Vasen: alle Arten von Monstren und Schnörkeln, die unter¬ wärts zu Vasenbäuchen und Untersätzen endigen. -- Denke man sich nun dergleichen Figuren schockweise verfertigt und ganz ohne Sinn und Verstand entsprungen, auch ohne Wahl und Absicht zusammengestellt, denke man sich diese Sockel, diese Piedestale und Unformen in einer unabsehbaren Reihe, so wird man das unangenehme Gefühl mit empfinden, das einen jeden überfallen muß, wenn er durch diese Spitz¬ ruthen des Wahnsinns durchgejagt wird."
"Das Widersinnige einer solchen geschmacklosen Denkart zeigt sich aber im höchsten Grade darin, daß die Gesimse der kleinen Häuser durchaus schief nach einer oder der andern Seite hinhängen, so daß das Gefühl der Wasserwage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menschen macht und der Grund aller Eurythmie ist, in uns zerrissen und gequält wird. Und so sind denn auch diese Dachreihen mit Hydern und kleinen Büsten, mit musicirenden Affenchören und ähnlichem Wahn¬ sinn verbrämt. Drachen mit Göttern abwechselnd, ein Atlas, der statt der Himmelskugel ein Weinfaß trägt. -- Gedenkt man sich aber aus allem diesem in das Schloß zu retten, welches, vom Vater erbaut, ein relativ vernünftiges äußeres Ansehn hat, so findet man nicht weit von der Pforte den lorbeerbekränzten Kopf eines römischen Kaisers auf einer Zwerggestalt, die auf einem Delphin sitzt".
(14) S. 43. Nach Levezow's Abhandlung über das Gor¬ gonenideal hatte die Entwicklung desselben drei Momente. Zuerst war es ein Thiergesicht; sodann wurde es eine Maske mit blökender Zunge; endlich ein menschliches Gesicht, dessen Schönheit aber allmälig charak¬ terlos wurde und das Medusenhafte nur noch attributiv durch die Haare und Flügel andeute. Die phobera kharis, die wir an der Meduse Rondanini bewundern, verschwand zuletzt.
(15) S. 44. Anselm Feuerbach: der Vaticanische Apollo. Eine Reihe archäologisch-ästhetischer Betrachtungen. Nürnberg 1833. Feuerbach, der nun schon Dahingeschiedene, nimmt einen äußern Haupt¬ beweis für seine Ansichten daher, daß die meisten Werke in der gefügigen Bronze, welche die volle Freiheit des Meisters geltend machen konnten, untergegangen sind. F 75: "Wären die Bronzestatuen von Athleten
Türken, Buckelige, alle Arten Verwachſene, Zwerge, Muſikanten, Pul¬ cinelle, antik coſtumirte Soldaten, Götter, Göttinnen, altfranzöſich Gekleidete, Soldaten mit Patrontaſchen und Gamaſchen, Mythologie mit frazzenhaften Zuthaten: Achill und Chiron mit Pulcinell. Thiere: nur Theile derſelben, Pferd mit Menſchenhänden, Pferdekopf auf Menſchen¬ körper, entſtellte Affen, viele Drachen und Schlangen, alle Arten von Pfoten an Figuren aller Art, Verdoppelungen, Verwechſelungen der Köpfe. Vaſen: alle Arten von Monſtren und Schnörkeln, die unter¬ wärts zu Vaſenbäuchen und Unterſätzen endigen. — Denke man ſich nun dergleichen Figuren ſchockweiſe verfertigt und ganz ohne Sinn und Verſtand entſprungen, auch ohne Wahl und Abſicht zuſammengeſtellt, denke man ſich dieſe Sockel, dieſe Piedeſtale und Unformen in einer unabſehbaren Reihe, ſo wird man das unangenehme Gefühl mit empfinden, das einen jeden überfallen muß, wenn er durch dieſe Spitz¬ ruthen des Wahnſinns durchgejagt wird.“
„Das Widerſinnige einer ſolchen geſchmackloſen Denkart zeigt ſich aber im höchſten Grade darin, daß die Geſimſe der kleinen Häuſer durchaus ſchief nach einer oder der andern Seite hinhängen, ſo daß das Gefühl der Waſſerwage und des Perpendikels, das uns eigentlich zu Menſchen macht und der Grund aller Eurythmie iſt, in uns zerriſſen und gequält wird. Und ſo ſind denn auch dieſe Dachreihen mit Hydern und kleinen Büſten, mit muſicirenden Affenchören und ähnlichem Wahn¬ ſinn verbrämt. Drachen mit Göttern abwechſelnd, ein Atlas, der ſtatt der Himmelskugel ein Weinfaß trägt. — Gedenkt man ſich aber aus allem dieſem in das Schloß zu retten, welches, vom Vater erbaut, ein relativ vernünftiges äußeres Anſehn hat, ſo findet man nicht weit von der Pforte den lorbeerbekränzten Kopf eines römiſchen Kaiſers auf einer Zwerggeſtalt, die auf einem Delphin ſitzt“.
(14) S. 43. Nach Levezow's Abhandlung über das Gor¬ gonenideal hatte die Entwicklung deſſelben drei Momente. Zuerſt war es ein Thiergeſicht; ſodann wurde es eine Maske mit blökender Zunge; endlich ein menſchliches Geſicht, deſſen Schönheit aber allmälig charak¬ terlos wurde und das Meduſenhafte nur noch attributiv durch die Haare und Flügel andeute. Die φοβερα χαρις, die wir an der Meduſe Rondanini bewundern, verſchwand zuletzt.
(15) S. 44. Anſelm Feuerbach: der Vaticaniſche Apollo. Eine Reihe archäologiſch-äſthetiſcher Betrachtungen. Nürnberg 1833. Feuerbach, der nun ſchon Dahingeſchiedene, nimmt einen äußern Haupt¬ beweis für ſeine Anſichten daher, daß die meiſten Werke in der gefügigen Bronze, welche die volle Freiheit des Meiſters geltend machen konnten, untergegangen ſind. F 75: „Wären die Bronzeſtatuen von Athleten
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Türken, Buckelige, alle Arten Verwachſene, Zwerge, Muſikanten, Pul¬
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Gekleidete, Soldaten mit Patrontaſchen und Gamaſchen, Mythologie
mit frazzenhaften Zuthaten: Achill und Chiron mit Pulcinell. Thiere:
nur Theile derſelben, Pferd mit Menſchenhänden, Pferdekopf auf Menſchen¬
körper, entſtellte Affen, viele Drachen und Schlangen, alle Arten von
Pfoten an Figuren aller Art, Verdoppelungen, Verwechſelungen der
Köpfe. Vaſen: alle Arten von Monſtren und Schnörkeln, die unter¬
wärts zu Vaſenbäuchen und Unterſätzen endigen. — Denke man ſich
nun dergleichen Figuren ſchockweiſe verfertigt und ganz ohne Sinn und
Verſtand entſprungen, auch ohne Wahl und Abſicht zuſammengeſtellt,
denke man ſich dieſe Sockel, dieſe Piedeſtale und Unformen in einer
unabſehbaren Reihe, ſo wird man das unangenehme Gefühl mit
empfinden, das einen jeden überfallen muß, wenn er durch dieſe Spitz¬
ruthen des Wahnſinns durchgejagt wird.“
„Das Widerſinnige einer ſolchen geſchmackloſen Denkart zeigt
ſich aber im höchſten Grade darin, daß die Geſimſe der kleinen Häuſer
durchaus ſchief nach einer oder der andern Seite hinhängen, ſo daß
das Gefühl der Waſſerwage und des Perpendikels, das uns eigentlich
zu Menſchen macht und der Grund aller Eurythmie iſt, in uns zerriſſen
und gequält wird. Und ſo ſind denn auch dieſe Dachreihen mit Hydern
und kleinen Büſten, mit muſicirenden Affenchören und ähnlichem Wahn¬
ſinn verbrämt. Drachen mit Göttern abwechſelnd, ein Atlas, der ſtatt
der Himmelskugel ein Weinfaß trägt. — Gedenkt man ſich aber aus
allem dieſem in das Schloß zu retten, welches, vom Vater erbaut,
ein relativ vernünftiges äußeres Anſehn hat, ſo findet man nicht weit
von der Pforte den lorbeerbekränzten Kopf eines römiſchen Kaiſers auf
einer Zwerggeſtalt, die auf einem Delphin ſitzt“.
(14) S. 43. Nach Levezow's Abhandlung über das Gor¬
gonenideal hatte die Entwicklung deſſelben drei Momente. Zuerſt war
es ein Thiergeſicht; ſodann wurde es eine Maske mit blökender Zunge;
endlich ein menſchliches Geſicht, deſſen Schönheit aber allmälig charak¬
terlos wurde und das Meduſenhafte nur noch attributiv durch die
Haare und Flügel andeute. Die φοβερα χαρις, die wir an der Meduſe
Rondanini bewundern, verſchwand zuletzt.
(15) S. 44. Anſelm Feuerbach: der Vaticaniſche Apollo.
Eine Reihe archäologiſch-äſthetiſcher Betrachtungen. Nürnberg 1833.
Feuerbach, der nun ſchon Dahingeſchiedene, nimmt einen äußern Haupt¬
beweis für ſeine Anſichten daher, daß die meiſten Werke in der gefügigen
Bronze, welche die volle Freiheit des Meiſters geltend machen konnten,
untergegangen ſind. F 75: „Wären die Bronzeſtatuen von Athleten
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 440. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/462>, abgerufen am 28.11.2024.
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