Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

die Seinigen auf zur Rache für ihm geschehene Schmach;
er winkt, ihm nach Orten zu folgen, wo er den Lebenden
wichtige Zeugnisse oder Schätze hinterlassen; oder er offenbart
auch Verbrechen, die er heimlich begangen und fleht, ihn
von seiner Schuld erlösen, ihm seine Buße bewirken zu
helfen. Denn der Todte ist schon unleibhaft und machtlos,
kann lichtscheu nicht selbst mehr in die taghelle Wirklichkeit
eingreifen; er kann nur flehen, beschwören, lenken, daß
Recht und Liebe auch ihm, dem Todten, von den Lebendigen
nicht verkümmert werden. Ganz stumm kann der Geist bei
Todten dem Lebenden seine Schuld vorhalten, wie Banquo's
Schatten, der sich an Macbeths Tafel niederläßt; oder er
kann mit dumpfem Klagenlaut reden, wie Hamlets Vater
u. s. w. Was ist also das Gespenst? Es ist der Reflex
des Schuldbewußtseins, die Ruhelosigkeit der eigenen Ent¬
zweiung, die sich in das Bild des drängenden Geistes
projicirt, wie jener Maler geistreich den Steckbrief als
das Doppelbild des Mörders selber, den er verfolgt, gemalt
hat. Der Mörder flieht in trüber Nacht; riesengroß eilt
der Steckbrief ihm nach; dieser Brief ist aber, sieht man
ihn näher an, wieder der Mörder selber, er ist der unendliche
Widerschein seiner Schuld; er flieht vor sich selber und schreibt
sich selber den Steckbrief. Dies ethische Moment gibt dem
Gespenstischen die ideale Weihe; in seiner Schattenhaftigkeit
muß es doch daß Gewicht derjenigen Nothwendigkeit durch¬
fühlen lassen, die auf dem ewigen Grunde der sittlichen
Mächte beruhet. In dem Gespenst muß sich ein Interesse
manifestiren, das über alle Meinung, über allen Hohn und
Angriff der Lebenden hinaus ist, wie der Geist des erschla¬
genen Comthur dem leichtsinnig frevelnden Don Juan in
solcher Hoheit gegenüber steht.

die Seinigen auf zur Rache für ihm geſchehene Schmach;
er winkt, ihm nach Orten zu folgen, wo er den Lebenden
wichtige Zeugniſſe oder Schätze hinterlaſſen; oder er offenbart
auch Verbrechen, die er heimlich begangen und fleht, ihn
von ſeiner Schuld erlöſen, ihm ſeine Buße bewirken zu
helfen. Denn der Todte iſt ſchon unleibhaft und machtlos,
kann lichtſcheu nicht ſelbſt mehr in die taghelle Wirklichkeit
eingreifen; er kann nur flehen, beſchwören, lenken, daß
Recht und Liebe auch ihm, dem Todten, von den Lebendigen
nicht verkümmert werden. Ganz ſtumm kann der Geiſt bei
Todten dem Lebenden ſeine Schuld vorhalten, wie Banquo's
Schatten, der ſich an Macbeths Tafel niederläßt; oder er
kann mit dumpfem Klagenlaut reden, wie Hamlets Vater
u. ſ. w. Was iſt alſo das Geſpenſt? Es iſt der Reflex
des Schuldbewußtſeins, die Ruheloſigkeit der eigenen Ent¬
zweiung, die ſich in das Bild des drängenden Geiſtes
projicirt, wie jener Maler geiſtreich den Steckbrief als
das Doppelbild des Mörders ſelber, den er verfolgt, gemalt
hat. Der Mörder flieht in trüber Nacht; rieſengroß eilt
der Steckbrief ihm nach; dieſer Brief iſt aber, ſieht man
ihn näher an, wieder der Mörder ſelber, er iſt der unendliche
Widerſchein ſeiner Schuld; er flieht vor ſich ſelber und ſchreibt
ſich ſelber den Steckbrief. Dies ethiſche Moment gibt dem
Geſpenſtiſchen die ideale Weihe; in ſeiner Schattenhaftigkeit
muß es doch daß Gewicht derjenigen Nothwendigkeit durch¬
fühlen laſſen, die auf dem ewigen Grunde der ſittlichen
Mächte beruhet. In dem Geſpenſt muß ſich ein Intereſſe
manifeſtiren, das über alle Meinung, über allen Hohn und
Angriff der Lebenden hinaus iſt, wie der Geiſt des erſchla¬
genen Comthur dem leichtſinnig frevelnden Don Juan in
ſolcher Hoheit gegenüber ſteht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0366" n="344"/>
die Seinigen auf zur Rache für ihm ge&#x017F;chehene Schmach;<lb/>
er winkt, ihm nach Orten zu folgen, wo er den Lebenden<lb/>
wichtige Zeugni&#x017F;&#x017F;e oder Schätze hinterla&#x017F;&#x017F;en; oder er offenbart<lb/>
auch Verbrechen, die er heimlich begangen und fleht, ihn<lb/>
von &#x017F;einer Schuld erlö&#x017F;en, ihm &#x017F;eine Buße bewirken zu<lb/>
helfen. Denn der Todte i&#x017F;t &#x017F;chon unleibhaft und machtlos,<lb/>
kann licht&#x017F;cheu nicht &#x017F;elb&#x017F;t mehr in die taghelle Wirklichkeit<lb/>
eingreifen; er kann nur flehen, be&#x017F;chwören, lenken, daß<lb/>
Recht und Liebe auch ihm, dem Todten, von den Lebendigen<lb/>
nicht verkümmert werden. Ganz &#x017F;tumm kann der Gei&#x017F;t bei<lb/>
Todten dem Lebenden &#x017F;eine Schuld vorhalten, wie Banquo's<lb/>
Schatten, der &#x017F;ich an Macbeths Tafel niederläßt; oder er<lb/>
kann mit dumpfem Klagenlaut reden, wie Hamlets Vater<lb/>
u. &#x017F;. w. Was i&#x017F;t al&#x017F;o das Ge&#x017F;pen&#x017F;t? Es i&#x017F;t der Reflex<lb/>
des Schuldbewußt&#x017F;eins, die Ruhelo&#x017F;igkeit der eigenen Ent¬<lb/>
zweiung, die &#x017F;ich in das Bild des drängenden Gei&#x017F;tes<lb/>
projicirt, wie jener Maler gei&#x017F;treich den <hi rendition="#g">Steckbrief</hi> als<lb/>
das Doppelbild des Mörders &#x017F;elber, den er verfolgt, gemalt<lb/>
hat. Der Mörder flieht in trüber Nacht; rie&#x017F;engroß eilt<lb/>
der Steckbrief ihm nach; die&#x017F;er Brief i&#x017F;t aber, &#x017F;ieht man<lb/>
ihn näher an, wieder der Mörder &#x017F;elber, er i&#x017F;t der unendliche<lb/>
Wider&#x017F;chein &#x017F;einer Schuld; er flieht vor &#x017F;ich &#x017F;elber und &#x017F;chreibt<lb/>
&#x017F;ich &#x017F;elber den Steckbrief. Dies ethi&#x017F;che Moment gibt dem<lb/>
Ge&#x017F;pen&#x017F;ti&#x017F;chen die ideale Weihe; in &#x017F;einer Schattenhaftigkeit<lb/>
muß es doch daß Gewicht derjenigen Nothwendigkeit durch¬<lb/>
fühlen la&#x017F;&#x017F;en, die auf dem ewigen Grunde der &#x017F;ittlichen<lb/>
Mächte beruhet. In dem Ge&#x017F;pen&#x017F;t muß &#x017F;ich ein Intere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
manife&#x017F;tiren, das über alle Meinung, über allen Hohn und<lb/>
Angriff der Lebenden hinaus i&#x017F;t, wie der Gei&#x017F;t des er&#x017F;chla¬<lb/>
genen Comthur dem leicht&#x017F;innig frevelnden Don Juan in<lb/>
&#x017F;olcher Hoheit gegenüber &#x017F;teht.</p><lb/>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[344/0366] die Seinigen auf zur Rache für ihm geſchehene Schmach; er winkt, ihm nach Orten zu folgen, wo er den Lebenden wichtige Zeugniſſe oder Schätze hinterlaſſen; oder er offenbart auch Verbrechen, die er heimlich begangen und fleht, ihn von ſeiner Schuld erlöſen, ihm ſeine Buße bewirken zu helfen. Denn der Todte iſt ſchon unleibhaft und machtlos, kann lichtſcheu nicht ſelbſt mehr in die taghelle Wirklichkeit eingreifen; er kann nur flehen, beſchwören, lenken, daß Recht und Liebe auch ihm, dem Todten, von den Lebendigen nicht verkümmert werden. Ganz ſtumm kann der Geiſt bei Todten dem Lebenden ſeine Schuld vorhalten, wie Banquo's Schatten, der ſich an Macbeths Tafel niederläßt; oder er kann mit dumpfem Klagenlaut reden, wie Hamlets Vater u. ſ. w. Was iſt alſo das Geſpenſt? Es iſt der Reflex des Schuldbewußtſeins, die Ruheloſigkeit der eigenen Ent¬ zweiung, die ſich in das Bild des drängenden Geiſtes projicirt, wie jener Maler geiſtreich den Steckbrief als das Doppelbild des Mörders ſelber, den er verfolgt, gemalt hat. Der Mörder flieht in trüber Nacht; rieſengroß eilt der Steckbrief ihm nach; dieſer Brief iſt aber, ſieht man ihn näher an, wieder der Mörder ſelber, er iſt der unendliche Widerſchein ſeiner Schuld; er flieht vor ſich ſelber und ſchreibt ſich ſelber den Steckbrief. Dies ethiſche Moment gibt dem Geſpenſtiſchen die ideale Weihe; in ſeiner Schattenhaftigkeit muß es doch daß Gewicht derjenigen Nothwendigkeit durch¬ fühlen laſſen, die auf dem ewigen Grunde der ſittlichen Mächte beruhet. In dem Geſpenſt muß ſich ein Intereſſe manifeſtiren, das über alle Meinung, über allen Hohn und Angriff der Lebenden hinaus iſt, wie der Geiſt des erſchla¬ genen Comthur dem leichtſinnig frevelnden Don Juan in ſolcher Hoheit gegenüber ſteht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/366
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/366>, abgerufen am 22.05.2024.