typen Nuditäten einer wahren Bordellphantasie zusammen¬ schrumpft. Wir Deutsche haben uns zwar auch zuweilen im Frivolen versucht, aber gegen die Franzosen gehalten sind wir immer nur blöde Schüler derselben gewesen; selbst wenn wir den dürrsten Rationalismus und doctrinärsten Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬ dern, daß nicht das Gemüth sich in naiven Inconsequenzen geltend mache, wie einem Bergsee, dessen klare Oberfläche zu stagniren scheint, unterirdische Zuflüsse in der Tiefe ein heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph Gottschall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deesse de la raison der alten Französischen Revolution, besungen. Aber wie keusch, wie romantisch, wie tragisch ist dieser Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er sich bemühet, die Vernunftgöttin durch eine schmerzliche, lange Erfahrung hin¬ durch in sich zu vertiefen, so daß sie nicht blos als ein schönes Phantom der Sinnlichkeit erscheint, vielmehr mit Geist und Herz des Namens einer Göttin würdig sein will und an der unausbleiblichen Enttäuschung dieses Wahns, als Robespierre den Glauben an Gott als das höchste Wesen decretirt, in wahnsinniger Verzweiflung untergeht; wie hat der Dichter ächt Deutsch ihren Schritt, sich allem Volk ausstellen zu lassen, durch die Liebe zu ihrem Gatten motivirt, den sie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬ sophisch steht dieser Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬ schen Standpunct, allein sein anthropologisch revolutionaires Pathos ist in sich gebrochen und verliert sich theils in die weichsten elegischen Töne, theils in dithyrambische Ausbrüche skeptischen Wahnsinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint die Schönheit der schaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel und der Innigkeit einer Madonna, denn
18 *
typen Nuditäten einer wahren Bordellphantaſie zuſammen¬ ſchrumpft. Wir Deutſche haben uns zwar auch zuweilen im Frivolen verſucht, aber gegen die Franzoſen gehalten ſind wir immer nur blöde Schüler derſelben geweſen; ſelbſt wenn wir den dürrſten Rationalismus und doctrinärſten Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬ dern, daß nicht das Gemüth ſich in naiven Inconſequenzen geltend mache, wie einem Bergſee, deſſen klare Oberfläche zu ſtagniren ſcheint, unterirdiſche Zuflüſſe in der Tiefe ein heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph Gottſchall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deésse de la raison der alten Franzöſiſchen Revolution, beſungen. Aber wie keuſch, wie romantiſch, wie tragiſch iſt dieſer Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er ſich bemühet, die Vernunftgöttin durch eine ſchmerzliche, lange Erfahrung hin¬ durch in ſich zu vertiefen, ſo daß ſie nicht blos als ein ſchönes Phantom der Sinnlichkeit erſcheint, vielmehr mit Geiſt und Herz des Namens einer Göttin würdig ſein will und an der unausbleiblichen Enttäuſchung dieſes Wahns, als Robespierre den Glauben an Gott als das höchſte Weſen decretirt, in wahnſinniger Verzweiflung untergeht; wie hat der Dichter ächt Deutſch ihren Schritt, ſich allem Volk ausſtellen zu laſſen, durch die Liebe zu ihrem Gatten motivirt, den ſie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬ ſophiſch ſteht dieſer Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬ ſchen Standpunct, allein ſein anthropologiſch revolutionaires Pathos iſt in ſich gebrochen und verliert ſich theils in die weichſten elegiſchen Töne, theils in dithyrambiſche Ausbrüche ſkeptiſchen Wahnſinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint die Schönheit der ſchaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel und der Innigkeit einer Madonna, denn
18 *
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0297"n="275"/>
typen Nuditäten einer wahren Bordellphantaſie zuſammen¬<lb/>ſchrumpft. Wir Deutſche haben uns zwar auch zuweilen<lb/>
im Frivolen verſucht, aber gegen die Franzoſen gehalten<lb/>ſind wir immer nur blöde Schüler derſelben geweſen; ſelbſt<lb/>
wenn wir den dürrſten Rationalismus und doctrinärſten<lb/>
Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬<lb/>
dern, daß nicht das Gemüth ſich in naiven Inconſequenzen<lb/>
geltend mache, wie einem Bergſee, deſſen klare Oberfläche<lb/>
zu ſtagniren ſcheint, unterirdiſche Zuflüſſe in der Tiefe ein<lb/>
heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph<lb/><hirendition="#g">Gottſchall</hi>, hat z. B. die <hirendition="#g">Göttin</hi>, nämlich die <hirendition="#aq">deésse<lb/>
de la raison</hi> der alten Franzöſiſchen Revolution, beſungen.<lb/>
Aber wie keuſch, wie romantiſch, wie tragiſch iſt dieſer<lb/>
Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er ſich bemühet, die<lb/>
Vernunftgöttin durch eine ſchmerzliche, lange Erfahrung hin¬<lb/>
durch in ſich zu vertiefen, ſo daß ſie nicht blos als ein<lb/>ſchönes Phantom der Sinnlichkeit erſcheint, vielmehr mit<lb/>
Geiſt und Herz des Namens einer Göttin würdig ſein will<lb/>
und an der unausbleiblichen Enttäuſchung dieſes Wahns,<lb/>
als Robespierre den Glauben an Gott als das höchſte<lb/>
Weſen decretirt, in wahnſinniger Verzweiflung untergeht;<lb/>
wie hat der Dichter ächt Deutſch ihren Schritt, ſich allem<lb/>
Volk ausſtellen zu laſſen, durch die Liebe zu ihrem Gatten<lb/>
motivirt, den ſie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬<lb/>ſophiſch ſteht dieſer Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬<lb/>ſchen Standpunct, allein ſein anthropologiſch revolutionaires<lb/>
Pathos iſt in ſich gebrochen und verliert ſich theils in die<lb/>
weichſten elegiſchen Töne, theils in dithyrambiſche Ausbrüche<lb/>ſkeptiſchen Wahnſinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint<lb/>
die Schönheit der ſchaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel<lb/>
und der Innigkeit einer Madonna, denn</p><lb/><fwplace="bottom"type="sig">18 *<lb/></fw></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[275/0297]
typen Nuditäten einer wahren Bordellphantaſie zuſammen¬
ſchrumpft. Wir Deutſche haben uns zwar auch zuweilen
im Frivolen verſucht, aber gegen die Franzoſen gehalten
ſind wir immer nur blöde Schüler derſelben geweſen; ſelbſt
wenn wir den dürrſten Rationalismus und doctrinärſten
Atheismus zur Schau tragen, können wir doch nicht hin¬
dern, daß nicht das Gemüth ſich in naiven Inconſequenzen
geltend mache, wie einem Bergſee, deſſen klare Oberfläche
zu ſtagniren ſcheint, unterirdiſche Zuflüſſe in der Tiefe ein
heimliches Leben erhalten. Ein neuerer Dichter, Rudolph
Gottſchall, hat z. B. die Göttin, nämlich die deésse
de la raison der alten Franzöſiſchen Revolution, beſungen.
Aber wie keuſch, wie romantiſch, wie tragiſch iſt dieſer
Stoff von dem Dichter erfaßt; wie hat er ſich bemühet, die
Vernunftgöttin durch eine ſchmerzliche, lange Erfahrung hin¬
durch in ſich zu vertiefen, ſo daß ſie nicht blos als ein
ſchönes Phantom der Sinnlichkeit erſcheint, vielmehr mit
Geiſt und Herz des Namens einer Göttin würdig ſein will
und an der unausbleiblichen Enttäuſchung dieſes Wahns,
als Robespierre den Glauben an Gott als das höchſte
Weſen decretirt, in wahnſinniger Verzweiflung untergeht;
wie hat der Dichter ächt Deutſch ihren Schritt, ſich allem
Volk ausſtellen zu laſſen, durch die Liebe zu ihrem Gatten
motivirt, den ſie damit vom Tode loszukaufen hofft. Philo¬
ſophiſch ſteht dieſer Dichter bekanntlich auf dem Feuerbach¬
ſchen Standpunct, allein ſein anthropologiſch revolutionaires
Pathos iſt in ſich gebrochen und verliert ſich theils in die
weichſten elegiſchen Töne, theils in dithyrambiſche Ausbrüche
ſkeptiſchen Wahnſinns. Seine Vernunftgöttin Marie vereint
die Schönheit der ſchaumgeborenen Aphrodite mit dem Adel
und der Innigkeit einer Madonna, denn
18 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/297>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.