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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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Wildheit unbefangen und gedankenlos diesem wüsten Schick¬
sal entgegen. Auf der einen Seite die Blutgier des Tigers,
das gedankenlos um sich wüthende Tollwerden, auf der
andern die Heiligkeit, die alle Abstraction von der Welt be¬
reits vollbracht hat und sich im reinen Uebersinnlichen bewegt.
All diese Figuren sind Abstractionen, weil sie ohne Entzweiung
und ohne Entwickelung sind; sie empören das Gefühl, weil
das Thierische oder Göttliche als Natur gegen den Geist sich
geltend macht. Strebt der Mensch nach der Erkenntniß des
Absoluten, so greift er zur Magie; findet eine Wiedergeburt
statt, so ist es durch ein Wunder." -- Was Schmidt Ab¬
straction nennt, nennen wir bei Calderon den psychologischen
Zwang, denn die Motivirung der Handlungen wird immer
aus dem Calcul entnommen, ob das Leben der Liebe, ob die
Liebe der Ehre, ob die Ehre dem Glauben nachzusetzen sei.
Wenn in La nina de Gomez Arias die Frau nach den ent¬
setzlichsten Mißhandlungen von Seiten des Mannes, der sie
sogar den Mauren als Sclavin verkauft, dem Manne dennoch
verzeiht, so ist es die Macht der Liebe, die als absolute
Leidenschaft des Weibes ihr die Ehre unterzuordnen erlaubt.
Wenn in dem bei uns bekannter gewordenen Schauspiel
El medico de su honra Don Gutierre auf einen bloßen Ver¬
dacht hin, daß sie durch ein Verhältniß zu einem Prinzen
die Treue verletzt habe, seine Frau grausam ermordet und,
als die Nichtigkeit seines Argwohns sich entdeckt, dennoch
ruhig bleibt, ja eine andere heirathet, so ist es die Leiden¬
schaft des Mannes für die Ehre, die ihm die Liebe für die
Ehre aufzuopfern befiehlt. Wenn im principe constante der
Infant Fernando in der Gefangenschaft, obwohl von der
Tochter des Marokkanischen Königs geliebt, obwohl in der
Möglichkeit, durch die Auslieferung von Ceuta sich zu be¬

Wildheit unbefangen und gedankenlos dieſem wüſten Schick¬
ſal entgegen. Auf der einen Seite die Blutgier des Tigers,
das gedankenlos um ſich wüthende Tollwerden, auf der
andern die Heiligkeit, die alle Abſtraction von der Welt be¬
reits vollbracht hat und ſich im reinen Ueberſinnlichen bewegt.
All dieſe Figuren ſind Abſtractionen, weil ſie ohne Entzweiung
und ohne Entwickelung ſind; ſie empören das Gefühl, weil
das Thieriſche oder Göttliche als Natur gegen den Geiſt ſich
geltend macht. Strebt der Menſch nach der Erkenntniß des
Abſoluten, ſo greift er zur Magie; findet eine Wiedergeburt
ſtatt, ſo iſt es durch ein Wunder.“ — Was Schmidt Ab¬
ſtraction nennt, nennen wir bei Calderon den pſychologiſchen
Zwang, denn die Motivirung der Handlungen wird immer
aus dem Calcul entnommen, ob das Leben der Liebe, ob die
Liebe der Ehre, ob die Ehre dem Glauben nachzuſetzen ſei.
Wenn in La nina de Gomez Arias die Frau nach den ent¬
ſetzlichſten Mißhandlungen von Seiten des Mannes, der ſie
ſogar den Mauren als Sclavin verkauft, dem Manne dennoch
verzeiht, ſo iſt es die Macht der Liebe, die als abſolute
Leidenſchaft des Weibes ihr die Ehre unterzuordnen erlaubt.
Wenn in dem bei uns bekannter gewordenen Schauſpiel
El medico de su honra Don Gutierre auf einen bloßen Ver¬
dacht hin, daß ſie durch ein Verhältniß zu einem Prinzen
die Treue verletzt habe, ſeine Frau grauſam ermordet und,
als die Nichtigkeit ſeines Argwohns ſich entdeckt, dennoch
ruhig bleibt, ja eine andere heirathet, ſo iſt es die Leiden¬
ſchaft des Mannes für die Ehre, die ihm die Liebe für die
Ehre aufzuopfern befiehlt. Wenn im principe constante der
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Tochter des Marokkaniſchen Königs geliebt, obwohl in der
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[253/0275] Wildheit unbefangen und gedankenlos dieſem wüſten Schick¬ ſal entgegen. Auf der einen Seite die Blutgier des Tigers, das gedankenlos um ſich wüthende Tollwerden, auf der andern die Heiligkeit, die alle Abſtraction von der Welt be¬ reits vollbracht hat und ſich im reinen Ueberſinnlichen bewegt. All dieſe Figuren ſind Abſtractionen, weil ſie ohne Entzweiung und ohne Entwickelung ſind; ſie empören das Gefühl, weil das Thieriſche oder Göttliche als Natur gegen den Geiſt ſich geltend macht. Strebt der Menſch nach der Erkenntniß des Abſoluten, ſo greift er zur Magie; findet eine Wiedergeburt ſtatt, ſo iſt es durch ein Wunder.“ — Was Schmidt Ab¬ ſtraction nennt, nennen wir bei Calderon den pſychologiſchen Zwang, denn die Motivirung der Handlungen wird immer aus dem Calcul entnommen, ob das Leben der Liebe, ob die Liebe der Ehre, ob die Ehre dem Glauben nachzuſetzen ſei. Wenn in La nina de Gomez Arias die Frau nach den ent¬ ſetzlichſten Mißhandlungen von Seiten des Mannes, der ſie ſogar den Mauren als Sclavin verkauft, dem Manne dennoch verzeiht, ſo iſt es die Macht der Liebe, die als abſolute Leidenſchaft des Weibes ihr die Ehre unterzuordnen erlaubt. Wenn in dem bei uns bekannter gewordenen Schauſpiel El medico de su honra Don Gutierre auf einen bloßen Ver¬ dacht hin, daß ſie durch ein Verhältniß zu einem Prinzen die Treue verletzt habe, ſeine Frau grauſam ermordet und, als die Nichtigkeit ſeines Argwohns ſich entdeckt, dennoch ruhig bleibt, ja eine andere heirathet, ſo iſt es die Leiden¬ ſchaft des Mannes für die Ehre, die ihm die Liebe für die Ehre aufzuopfern befiehlt. Wenn im principe constante der Infant Fernando in der Gefangenſchaft, obwohl von der Tochter des Marokkaniſchen Königs geliebt, obwohl in der Möglichkeit, durch die Auslieferung von Ceuta ſich zu be¬

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/275>, abgerufen am 23.11.2024.