Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

kehren; Schimpfworte, Mißhandlungen, Prügel, Hunger
warten ihrer dann in der entsetzlichsten Grausamkeit. -- Die
feinere Form der Brutalität, der psychologische Zwang, hat
wohl nirgends eine tiefere Durchbildung, als in dem
Calderon'schen Drama erhalten, dessen Dialektik von
Glaube, Liebe und Ehre die unerhörtesten Peinigungen auch
an Andern hervorruft, denn die Qual, die Jemand sich
selbst zufügt, kann man nicht Brutalität nennen, bestände
sie auch, wie bei Origenes, in Selbstcastration, wie bei
Suso, im Tragen eines Stachelgürtels, im Schlafen auf
einem hölzernen Kreuz u. s. w. Die große Phantasie des
Spanischen Dichters und das religiöskatholische Interesse,
das sich mit ihm verbindet, haben in seiner Betrachtung
allerdings die Anerkennung, ja auch nur die Bemerklich¬
machung des brutalen Elementes sehr zurückgedrängt. In¬
dessen besitzen wir auch eine Arbeit, die sich mit vieler
Gründlichkeit der Mühe unterzogen hat, an den berühmtesten
Dramen Calderons die empörende Unmenschlichkeit nachzu¬
weisen, in welche die Dialektik von Glaube, Ehre und Liebe
ausartet. Wir meinen Julian Schmidt in seiner Geschichte
der Romantik im Zeitalter der Reformation und der Re¬
volution, 1848, Bd. I., S. 244 -- 302. Nur aus dem
Schluß dieser scharfsinnigen Entwicklung wollen wir hier
dasjenige anziehen, was S. 290 -- 91. sich auf unser Thema
bezieht. Julian Schmidt (54) sagt: "Hinter dieser Mytho¬
logie der Ehre, des Glaubens und der Liebe, diesen blüthen¬
reichen Träumen der Phantasie, verbirgt sich eine kalt be¬
rechnende, abstracte Selbstsucht. -- Der äußerliche Gottes¬
dienst läßt alle Naturkräfte frei, und der düstere Reiz des
Aberglaubens verkehrt das Leben in einen wüsten Tummel¬
platz böser Geister. Wer in Calderon die üppig schaffende

kehren; Schimpfworte, Mißhandlungen, Prügel, Hunger
warten ihrer dann in der entſetzlichſten Grauſamkeit. — Die
feinere Form der Brutalität, der pſychologiſche Zwang, hat
wohl nirgends eine tiefere Durchbildung, als in dem
Calderon'ſchen Drama erhalten, deſſen Dialektik von
Glaube, Liebe und Ehre die unerhörteſten Peinigungen auch
an Andern hervorruft, denn die Qual, die Jemand ſich
ſelbſt zufügt, kann man nicht Brutalität nennen, beſtände
ſie auch, wie bei Origenes, in Selbſtcaſtration, wie bei
Suſo, im Tragen eines Stachelgürtels, im Schlafen auf
einem hölzernen Kreuz u. ſ. w. Die große Phantaſie des
Spaniſchen Dichters und das religiöskatholiſche Intereſſe,
das ſich mit ihm verbindet, haben in ſeiner Betrachtung
allerdings die Anerkennung, ja auch nur die Bemerklich¬
machung des brutalen Elementes ſehr zurückgedrängt. In¬
deſſen beſitzen wir auch eine Arbeit, die ſich mit vieler
Gründlichkeit der Mühe unterzogen hat, an den berühmteſten
Dramen Calderons die empörende Unmenſchlichkeit nachzu¬
weiſen, in welche die Dialektik von Glaube, Ehre und Liebe
ausartet. Wir meinen Julian Schmidt in ſeiner Geſchichte
der Romantik im Zeitalter der Reformation und der Re¬
volution, 1848, Bd. I., S. 244 — 302. Nur aus dem
Schluß dieſer ſcharfſinnigen Entwicklung wollen wir hier
dasjenige anziehen, was S. 290 — 91. ſich auf unſer Thema
bezieht. Julian Schmidt (54) ſagt: „Hinter dieſer Mytho¬
logie der Ehre, des Glaubens und der Liebe, dieſen blüthen¬
reichen Träumen der Phantaſie, verbirgt ſich eine kalt be¬
rechnende, abſtracte Selbſtſucht. — Der äußerliche Gottes¬
dienſt läßt alle Naturkräfte frei, und der düſtere Reiz des
Aberglaubens verkehrt das Leben in einen wüſten Tummel¬
platz böſer Geiſter. Wer in Calderon die üppig ſchaffende

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0273" n="251"/>
kehren; Schimpfworte, Mißhandlungen, Prügel, Hunger<lb/>
warten ihrer dann in der ent&#x017F;etzlich&#x017F;ten Grau&#x017F;amkeit. &#x2014; Die<lb/>
feinere Form der Brutalität, der p&#x017F;ychologi&#x017F;che Zwang, hat<lb/>
wohl nirgends eine tiefere Durchbildung, als in dem<lb/><hi rendition="#g">Calderon'&#x017F;chen</hi> Drama erhalten, de&#x017F;&#x017F;en Dialektik von<lb/>
Glaube, Liebe und Ehre die unerhörte&#x017F;ten Peinigungen auch<lb/>
an Andern hervorruft, denn die Qual, die Jemand &#x017F;ich<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t zufügt, kann man nicht Brutalität nennen, be&#x017F;tände<lb/>
&#x017F;ie auch, wie bei Origenes, in Selb&#x017F;tca&#x017F;tration, wie bei<lb/>
Su&#x017F;o, im Tragen eines Stachelgürtels, im Schlafen auf<lb/>
einem hölzernen Kreuz u. &#x017F;. w. Die große Phanta&#x017F;ie des<lb/>
Spani&#x017F;chen Dichters und das religiöskatholi&#x017F;che Intere&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
das &#x017F;ich mit ihm verbindet, haben in &#x017F;einer Betrachtung<lb/>
allerdings die Anerkennung, ja auch nur die Bemerklich¬<lb/>
machung des brutalen Elementes &#x017F;ehr zurückgedrängt. In¬<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en be&#x017F;itzen wir auch eine Arbeit, die &#x017F;ich mit vieler<lb/>
Gründlichkeit der Mühe unterzogen hat, an den berühmte&#x017F;ten<lb/>
Dramen Calderons die empörende Unmen&#x017F;chlichkeit nachzu¬<lb/>
wei&#x017F;en, in welche die Dialektik von Glaube, Ehre und Liebe<lb/>
ausartet. Wir meinen Julian <hi rendition="#g">Schmidt</hi> in &#x017F;einer Ge&#x017F;chichte<lb/>
der Romantik im Zeitalter der Reformation und der Re¬<lb/>
volution, 1848, Bd. <hi rendition="#aq">I</hi>., S. 244 &#x2014; 302. Nur aus dem<lb/>
Schluß die&#x017F;er &#x017F;charf&#x017F;innigen Entwicklung wollen wir hier<lb/>
dasjenige anziehen, was S. 290 &#x2014; 91. &#x017F;ich auf un&#x017F;er Thema<lb/>
bezieht. Julian Schmidt (54) &#x017F;agt: &#x201E;Hinter die&#x017F;er Mytho¬<lb/>
logie der Ehre, des Glaubens und der Liebe, die&#x017F;en blüthen¬<lb/>
reichen Träumen der Phanta&#x017F;ie, verbirgt &#x017F;ich eine kalt be¬<lb/>
rechnende, ab&#x017F;tracte Selb&#x017F;t&#x017F;ucht. &#x2014; Der äußerliche Gottes¬<lb/>
dien&#x017F;t läßt alle Naturkräfte frei, und der dü&#x017F;tere Reiz des<lb/>
Aberglaubens verkehrt das Leben in einen wü&#x017F;ten Tummel¬<lb/>
platz bö&#x017F;er Gei&#x017F;ter. Wer in Calderon die üppig &#x017F;chaffende<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[251/0273] kehren; Schimpfworte, Mißhandlungen, Prügel, Hunger warten ihrer dann in der entſetzlichſten Grauſamkeit. — Die feinere Form der Brutalität, der pſychologiſche Zwang, hat wohl nirgends eine tiefere Durchbildung, als in dem Calderon'ſchen Drama erhalten, deſſen Dialektik von Glaube, Liebe und Ehre die unerhörteſten Peinigungen auch an Andern hervorruft, denn die Qual, die Jemand ſich ſelbſt zufügt, kann man nicht Brutalität nennen, beſtände ſie auch, wie bei Origenes, in Selbſtcaſtration, wie bei Suſo, im Tragen eines Stachelgürtels, im Schlafen auf einem hölzernen Kreuz u. ſ. w. Die große Phantaſie des Spaniſchen Dichters und das religiöskatholiſche Intereſſe, das ſich mit ihm verbindet, haben in ſeiner Betrachtung allerdings die Anerkennung, ja auch nur die Bemerklich¬ machung des brutalen Elementes ſehr zurückgedrängt. In¬ deſſen beſitzen wir auch eine Arbeit, die ſich mit vieler Gründlichkeit der Mühe unterzogen hat, an den berühmteſten Dramen Calderons die empörende Unmenſchlichkeit nachzu¬ weiſen, in welche die Dialektik von Glaube, Ehre und Liebe ausartet. Wir meinen Julian Schmidt in ſeiner Geſchichte der Romantik im Zeitalter der Reformation und der Re¬ volution, 1848, Bd. I., S. 244 — 302. Nur aus dem Schluß dieſer ſcharfſinnigen Entwicklung wollen wir hier dasjenige anziehen, was S. 290 — 91. ſich auf unſer Thema bezieht. Julian Schmidt (54) ſagt: „Hinter dieſer Mytho¬ logie der Ehre, des Glaubens und der Liebe, dieſen blüthen¬ reichen Träumen der Phantaſie, verbirgt ſich eine kalt be¬ rechnende, abſtracte Selbſtſucht. — Der äußerliche Gottes¬ dienſt läßt alle Naturkräfte frei, und der düſtere Reiz des Aberglaubens verkehrt das Leben in einen wüſten Tummel¬ platz böſer Geiſter. Wer in Calderon die üppig ſchaffende

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/273
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 251. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/273>, abgerufen am 23.11.2024.