mehr wegfällt und das Brutale um so mehr als ein Werk des selbstbewußten freien Willens erscheint. Die Brutalität mißbraucht die Gewalt des Stärkern gegen den Schwächern, des Mannes gegen das Weib, des Erwachsenen gegen das Kind, des Gesunden gegen den Kranken, des Freien gegen den Gefangenen, des Bewaffneten gegen den Wehrlosen, des Herrn gegen den Sclaven, des Schuldigen gegen den Unschuldigen. Der Zwang, den die Uebermacht in ihrer Selbstsucht gegen den Schwachen ausübt, ist das Himmel¬ schreiende in der Brutalität.
Der Form nach kann die Brutalität aber theils eine gröbere, theils eine feinere sein. Eine gröbere, wenn das Leiden, das sie hervorbringt, einen direct sinnlichen Ausdruck annimmt, wie bei Thierhetzen, Stiergefechten, Hinrichtungen, Torturen u. dgl.; eine feinere, wenn das Leiden mehr auf einem psychologischen Zwange beruht. Die erstere Form ist diejenige, die in den criminalistischen Dramen, in Ritter- und Räuberromanen, in Proletariernovellen, in Sclavengeschichten herrscht. Als Eugene Sue seine Pariser Geheimnisse geschrieben hatte, was für Brutalitäten der gröbsten Art häuften da nicht seine Nachahmer zusammen! Sue hat für die Schilderung des Brutalen ein außerordent¬ liches Talent; er ist oft grell, allein zuweilen auch wahrhaft plastisch. Seine Geschichte von Gringalet und Coupe- en-deux in den Mysterien ist ein Meisterstück. Dieser Coupe-en-deux ist noch ganz in der Weise des Blaubart gehalten, dieses finstern, aus den Feudalzeiten stammenden Wüthrichtypus. Er hat sich eine Menagerie hülfloser Kleinen zusammengebracht, die er Tags über aussendet, den einen mit einer Schildkröte, den andern mit einem Affen; wehe ihnen, wenn sie am Abend ohne reichlichen Erlös zurück¬
mehr wegfällt und das Brutale um ſo mehr als ein Werk des ſelbſtbewußten freien Willens erſcheint. Die Brutalität mißbraucht die Gewalt des Stärkern gegen den Schwächern, des Mannes gegen das Weib, des Erwachſenen gegen das Kind, des Geſunden gegen den Kranken, des Freien gegen den Gefangenen, des Bewaffneten gegen den Wehrloſen, des Herrn gegen den Sclaven, des Schuldigen gegen den Unſchuldigen. Der Zwang, den die Uebermacht in ihrer Selbſtſucht gegen den Schwachen ausübt, iſt das Himmel¬ ſchreiende in der Brutalität.
Der Form nach kann die Brutalität aber theils eine gröbere, theils eine feinere ſein. Eine gröbere, wenn das Leiden, das ſie hervorbringt, einen direct ſinnlichen Ausdruck annimmt, wie bei Thierhetzen, Stiergefechten, Hinrichtungen, Torturen u. dgl.; eine feinere, wenn das Leiden mehr auf einem pſychologiſchen Zwange beruht. Die erſtere Form iſt diejenige, die in den criminaliſtiſchen Dramen, in Ritter- und Räuberromanen, in Proletariernovellen, in Sclavengeſchichten herrſcht. Als Eugene Sue ſeine Pariſer Geheimniſſe geſchrieben hatte, was für Brutalitäten der gröbſten Art häuften da nicht ſeine Nachahmer zuſammen! Sue hat für die Schilderung des Brutalen ein außerordent¬ liches Talent; er iſt oft grell, allein zuweilen auch wahrhaft plaſtiſch. Seine Geſchichte von Gringalet und Coupe- en-deux in den Myſterien iſt ein Meiſterſtück. Dieſer Coupe-en-deux iſt noch ganz in der Weiſe des Blaubart gehalten, dieſes finſtern, aus den Feudalzeiten ſtammenden Wüthrichtypus. Er hat ſich eine Menagerie hülfloſer Kleinen zuſammengebracht, die er Tags über ausſendet, den einen mit einer Schildkröte, den andern mit einem Affen; wehe ihnen, wenn ſie am Abend ohne reichlichen Erlös zurück¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0272"n="250"/>
mehr wegfällt und das Brutale um ſo mehr als ein Werk<lb/>
des ſelbſtbewußten freien Willens erſcheint. Die Brutalität<lb/>
mißbraucht die Gewalt des Stärkern gegen den Schwächern,<lb/>
des Mannes gegen das Weib, des Erwachſenen gegen das<lb/>
Kind, des Geſunden gegen den Kranken, des Freien gegen<lb/>
den Gefangenen, des Bewaffneten gegen den Wehrloſen,<lb/>
des Herrn gegen den Sclaven, des Schuldigen gegen den<lb/>
Unſchuldigen. Der Zwang, den die Uebermacht in ihrer<lb/>
Selbſtſucht gegen den Schwachen ausübt, iſt das Himmel¬<lb/>ſchreiende in der Brutalität.</p><lb/><p>Der Form nach kann die Brutalität aber theils eine<lb/><hirendition="#g">gröbere</hi>, theils eine <hirendition="#g">feinere</hi>ſein. Eine gröbere, wenn<lb/>
das Leiden, das ſie hervorbringt, einen direct ſinnlichen<lb/>
Ausdruck annimmt, wie bei Thierhetzen, Stiergefechten,<lb/>
Hinrichtungen, Torturen u. dgl.; eine feinere, wenn das<lb/>
Leiden mehr auf einem pſychologiſchen Zwange beruht. Die<lb/>
erſtere Form iſt diejenige, die in den criminaliſtiſchen Dramen,<lb/>
in Ritter- und Räuberromanen, in Proletariernovellen, in<lb/>
Sclavengeſchichten herrſcht. Als Eugene <hirendition="#g">Sue</hi>ſeine Pariſer<lb/>
Geheimniſſe geſchrieben hatte, was für Brutalitäten der<lb/>
gröbſten Art häuften da nicht ſeine Nachahmer zuſammen!<lb/>
Sue hat für die Schilderung des Brutalen ein außerordent¬<lb/>
liches Talent; er iſt oft grell, allein zuweilen auch wahrhaft<lb/>
plaſtiſch. Seine Geſchichte von <hirendition="#g">Gringalet</hi> und <hirendition="#g">Coupe</hi>-<lb/><hirendition="#g">en-deux</hi> in den Myſterien iſt ein Meiſterſtück. Dieſer<lb/>
Coupe-en-deux iſt noch ganz in der Weiſe des Blaubart<lb/>
gehalten, dieſes finſtern, aus den Feudalzeiten ſtammenden<lb/>
Wüthrichtypus. Er hat ſich eine Menagerie hülfloſer Kleinen<lb/>
zuſammengebracht, die er Tags über ausſendet, den einen<lb/>
mit einer Schildkröte, den andern mit einem Affen; wehe<lb/>
ihnen, wenn ſie am Abend ohne reichlichen Erlös zurück¬<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[250/0272]
mehr wegfällt und das Brutale um ſo mehr als ein Werk
des ſelbſtbewußten freien Willens erſcheint. Die Brutalität
mißbraucht die Gewalt des Stärkern gegen den Schwächern,
des Mannes gegen das Weib, des Erwachſenen gegen das
Kind, des Geſunden gegen den Kranken, des Freien gegen
den Gefangenen, des Bewaffneten gegen den Wehrloſen,
des Herrn gegen den Sclaven, des Schuldigen gegen den
Unſchuldigen. Der Zwang, den die Uebermacht in ihrer
Selbſtſucht gegen den Schwachen ausübt, iſt das Himmel¬
ſchreiende in der Brutalität.
Der Form nach kann die Brutalität aber theils eine
gröbere, theils eine feinere ſein. Eine gröbere, wenn
das Leiden, das ſie hervorbringt, einen direct ſinnlichen
Ausdruck annimmt, wie bei Thierhetzen, Stiergefechten,
Hinrichtungen, Torturen u. dgl.; eine feinere, wenn das
Leiden mehr auf einem pſychologiſchen Zwange beruht. Die
erſtere Form iſt diejenige, die in den criminaliſtiſchen Dramen,
in Ritter- und Räuberromanen, in Proletariernovellen, in
Sclavengeſchichten herrſcht. Als Eugene Sue ſeine Pariſer
Geheimniſſe geſchrieben hatte, was für Brutalitäten der
gröbſten Art häuften da nicht ſeine Nachahmer zuſammen!
Sue hat für die Schilderung des Brutalen ein außerordent¬
liches Talent; er iſt oft grell, allein zuweilen auch wahrhaft
plaſtiſch. Seine Geſchichte von Gringalet und Coupe-
en-deux in den Myſterien iſt ein Meiſterſtück. Dieſer
Coupe-en-deux iſt noch ganz in der Weiſe des Blaubart
gehalten, dieſes finſtern, aus den Feudalzeiten ſtammenden
Wüthrichtypus. Er hat ſich eine Menagerie hülfloſer Kleinen
zuſammengebracht, die er Tags über ausſendet, den einen
mit einer Schildkröte, den andern mit einem Affen; wehe
ihnen, wenn ſie am Abend ohne reichlichen Erlös zurück¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/272>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.