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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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aber deswegen den Schauplatz, damit er das daselbst an¬
treffe, was er außer demselben mehr als zu häufig findet?
Er muß also ungewöhnliche Züge in seine Charaktere ein¬
mischen, wenn er die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich
ziehen will. Was ist aber das Ungewöhnliche anders, als
eine Abweichung von dem Natürlichen?" Abweichung von
dem Natürlichen soll hier das Ungewöhnliche charakterisiren.
Consequent langt man mit ihr bei der Zauberei und beim
Wunder, oder auch bei der Künstelei und dem Widernatür¬
lichen an, denn dies sind doch wohl die stärksten Abweichungen
vom Natürlichen. Allein so hat Lessing es nicht gemeint,
sondern, wie der Zusammenhang zeigt, hat er nur sagen
wollen, daß die Kunst noch nicht Kunst sei, wenn sie die
gemeine Wirklichkeit abschreibe, gegen welche gehalten alle
Poesie, alle Kunst selber das Ungewöhnliche ist. Auch ver¬
wechsle man nicht die Gewöhnlichkeit mit der Verviel¬
fältigung
. Das Schöne als solches kann durch seine Ver¬
vielfältigung nicht alterirt werden, weil es in sich unendlich
ist; wie wir nicht müde werden, das Blau des Himmels,
das Grün der Erde, die Blüthen des Frühlings, den Gesang
der Nachtigall mit immer frischer Dankbarkeit zu genießen.
An der theatralischen Erneuung der Sophokleischen Antigone
haben wir in unsern Tagen ein recht merkwürdiges Beispiel
der unsterblichen Kraft erlebt, welche dem wahrhaft Schönen
unalternd einwohnt. Es ist eine der wichtigsten Seiten der
modernen Technik, daß ihre Vervollkommnung Werke der
bildenden Kunst in immer wohlfeilern und doch treuen Ver¬
vielfältigungen möglich und damit den Genuß derselben immer
allgemeiner macht. Solche Vervielfältigung ist etwas Anderes,
als die schaale Reproduction typischer Vorbilder in der erfin¬
dungslosen Nachahmung der unproduktiven Schwäche. Welche

aber deswegen den Schauplatz, damit er das daſelbſt an¬
treffe, was er außer demſelben mehr als zu häufig findet?
Er muß alſo ungewöhnliche Züge in ſeine Charaktere ein¬
miſchen, wenn er die Aufmerkſamkeit der Zuſchauer auf ſich
ziehen will. Was iſt aber das Ungewöhnliche anders, als
eine Abweichung von dem Natürlichen?“ Abweichung von
dem Natürlichen ſoll hier das Ungewöhnliche charakteriſiren.
Conſequent langt man mit ihr bei der Zauberei und beim
Wunder, oder auch bei der Künſtelei und dem Widernatür¬
lichen an, denn dies ſind doch wohl die ſtärkſten Abweichungen
vom Natürlichen. Allein ſo hat Leſſing es nicht gemeint,
ſondern, wie der Zuſammenhang zeigt, hat er nur ſagen
wollen, daß die Kunſt noch nicht Kunſt ſei, wenn ſie die
gemeine Wirklichkeit abſchreibe, gegen welche gehalten alle
Poeſie, alle Kunſt ſelber das Ungewöhnliche iſt. Auch ver¬
wechsle man nicht die Gewöhnlichkeit mit der Verviel¬
fältigung
. Das Schöne als ſolches kann durch ſeine Ver¬
vielfältigung nicht alterirt werden, weil es in ſich unendlich
iſt; wie wir nicht müde werden, das Blau des Himmels,
das Grün der Erde, die Blüthen des Frühlings, den Geſang
der Nachtigall mit immer friſcher Dankbarkeit zu genießen.
An der theatraliſchen Erneuung der Sophokleïſchen Antigone
haben wir in unſern Tagen ein recht merkwürdiges Beiſpiel
der unſterblichen Kraft erlebt, welche dem wahrhaft Schönen
unalternd einwohnt. Es iſt eine der wichtigſten Seiten der
modernen Technik, daß ihre Vervollkommnung Werke der
bildenden Kunſt in immer wohlfeilern und doch treuen Ver¬
vielfältigungen möglich und damit den Genuß derſelben immer
allgemeiner macht. Solche Vervielfältigung iſt etwas Anderes,
als die ſchaale Reproduction typiſcher Vorbilder in der erfin¬
dungsloſen Nachahmung der unproduktiven Schwäche. Welche

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[205/0227] aber deswegen den Schauplatz, damit er das daſelbſt an¬ treffe, was er außer demſelben mehr als zu häufig findet? Er muß alſo ungewöhnliche Züge in ſeine Charaktere ein¬ miſchen, wenn er die Aufmerkſamkeit der Zuſchauer auf ſich ziehen will. Was iſt aber das Ungewöhnliche anders, als eine Abweichung von dem Natürlichen?“ Abweichung von dem Natürlichen ſoll hier das Ungewöhnliche charakteriſiren. Conſequent langt man mit ihr bei der Zauberei und beim Wunder, oder auch bei der Künſtelei und dem Widernatür¬ lichen an, denn dies ſind doch wohl die ſtärkſten Abweichungen vom Natürlichen. Allein ſo hat Leſſing es nicht gemeint, ſondern, wie der Zuſammenhang zeigt, hat er nur ſagen wollen, daß die Kunſt noch nicht Kunſt ſei, wenn ſie die gemeine Wirklichkeit abſchreibe, gegen welche gehalten alle Poeſie, alle Kunſt ſelber das Ungewöhnliche iſt. Auch ver¬ wechsle man nicht die Gewöhnlichkeit mit der Verviel¬ fältigung. Das Schöne als ſolches kann durch ſeine Ver¬ vielfältigung nicht alterirt werden, weil es in ſich unendlich iſt; wie wir nicht müde werden, das Blau des Himmels, das Grün der Erde, die Blüthen des Frühlings, den Geſang der Nachtigall mit immer friſcher Dankbarkeit zu genießen. An der theatraliſchen Erneuung der Sophokleïſchen Antigone haben wir in unſern Tagen ein recht merkwürdiges Beiſpiel der unſterblichen Kraft erlebt, welche dem wahrhaft Schönen unalternd einwohnt. Es iſt eine der wichtigſten Seiten der modernen Technik, daß ihre Vervollkommnung Werke der bildenden Kunſt in immer wohlfeilern und doch treuen Ver¬ vielfältigungen möglich und damit den Genuß derſelben immer allgemeiner macht. Solche Vervielfältigung iſt etwas Anderes, als die ſchaale Reproduction typiſcher Vorbilder in der erfin¬ dungsloſen Nachahmung der unproduktiven Schwäche. Welche

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/227>, abgerufen am 01.05.2024.