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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf
über die Geschichte des Romans und ähnlichen die Einsicht
gewinnt, daß gewisse Stoffe durch verschiedene Völker,
Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieselben bleiben, so
kann uns die Phantasie der Dichter sehr arm vorkommen;
allein dies ist ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die
Schöpferkraft der Phantasie zeigt sich vielmehr darin, daß
sie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten
Schranken eine so große Mannigfaltigkeit der Ausführung
zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie
das von Herr und Diener, so liegen in demselben sofort
bestimmte Grenzen, bestimmte Motive. Herr und Diener
machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Lustspiels
aus. Herr und Diener, das ist das formale Thema des
Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot,
der Pickwickier von Boz u. s. w. Aber so verschieden bei
diesen Dichtern die Herren sind, ein Don Quixote, der
Maeitre und Herr Pickwick, so verschieden sind auch die Diener
Sancho, Jacques, Samweller. In dieser Verschiedenheit
bleibt die Gleichheit der Motive, weil sie von der allgemeinen
Situation unzertrennlich ist. Die Herren wie die Diener
besitzen daher eine gewisse Familienähnlichkeit; allein inner¬
halb derselben gehen sie durch ihre Individualität wieder aus¬
einander und hierin liegt die Originalität der schaffenden
Phantasie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr sieht,
eine Prise nimmt und Jacques wieder einen Anstoß gibt,
die Geschichte seiner Liebschaften fortzuerzählen, ist eine einzige
Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder
mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat,
so wenig als diese mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬
pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als

über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf
über die Geſchichte des Romans und ähnlichen die Einſicht
gewinnt, daß gewiſſe Stoffe durch verſchiedene Völker,
Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieſelben bleiben, ſo
kann uns die Phantaſie der Dichter ſehr arm vorkommen;
allein dies iſt ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die
Schöpferkraft der Phantaſie zeigt ſich vielmehr darin, daß
ſie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten
Schranken eine ſo große Mannigfaltigkeit der Ausführung
zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie
das von Herr und Diener, ſo liegen in demſelben ſofort
beſtimmte Grenzen, beſtimmte Motive. Herr und Diener
machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Luſtſpiels
aus. Herr und Diener, das iſt das formale Thema des
Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot,
der Pickwickier von Boz u. ſ. w. Aber ſo verſchieden bei
dieſen Dichtern die Herren ſind, ein Don Quixote, der
Maître und Herr Pickwick, ſo verſchieden ſind auch die Diener
Sancho, Jacques, Samweller. In dieſer Verſchiedenheit
bleibt die Gleichheit der Motive, weil ſie von der allgemeinen
Situation unzertrennlich iſt. Die Herren wie die Diener
beſitzen daher eine gewiſſe Familienähnlichkeit; allein inner¬
halb derſelben gehen ſie durch ihre Individualität wieder aus¬
einander und hierin liegt die Originalität der ſchaffenden
Phantaſie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr ſieht,
eine Priſe nimmt und Jacques wieder einen Anſtoß gibt,
die Geſchichte ſeiner Liebſchaften fortzuerzählen, iſt eine einzige
Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder
mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat,
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[203/0225] über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf über die Geſchichte des Romans und ähnlichen die Einſicht gewinnt, daß gewiſſe Stoffe durch verſchiedene Völker, Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieſelben bleiben, ſo kann uns die Phantaſie der Dichter ſehr arm vorkommen; allein dies iſt ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die Schöpferkraft der Phantaſie zeigt ſich vielmehr darin, daß ſie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten Schranken eine ſo große Mannigfaltigkeit der Ausführung zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie das von Herr und Diener, ſo liegen in demſelben ſofort beſtimmte Grenzen, beſtimmte Motive. Herr und Diener machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Luſtſpiels aus. Herr und Diener, das iſt das formale Thema des Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot, der Pickwickier von Boz u. ſ. w. Aber ſo verſchieden bei dieſen Dichtern die Herren ſind, ein Don Quixote, der Maître und Herr Pickwick, ſo verſchieden ſind auch die Diener Sancho, Jacques, Samweller. In dieſer Verſchiedenheit bleibt die Gleichheit der Motive, weil ſie von der allgemeinen Situation unzertrennlich iſt. Die Herren wie die Diener beſitzen daher eine gewiſſe Familienähnlichkeit; allein inner¬ halb derſelben gehen ſie durch ihre Individualität wieder aus¬ einander und hierin liegt die Originalität der ſchaffenden Phantaſie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr ſieht, eine Priſe nimmt und Jacques wieder einen Anſtoß gibt, die Geſchichte ſeiner Liebſchaften fortzuerzählen, iſt eine einzige Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat, ſo wenig als dieſe mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬ pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/225>, abgerufen am 25.11.2024.