über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf über die Geschichte des Romans und ähnlichen die Einsicht gewinnt, daß gewisse Stoffe durch verschiedene Völker, Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieselben bleiben, so kann uns die Phantasie der Dichter sehr arm vorkommen; allein dies ist ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die Schöpferkraft der Phantasie zeigt sich vielmehr darin, daß sie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten Schranken eine so große Mannigfaltigkeit der Ausführung zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie das von Herr und Diener, so liegen in demselben sofort bestimmte Grenzen, bestimmte Motive. Herr und Diener machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Lustspiels aus. Herr und Diener, das ist das formale Thema des Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot, der Pickwickier von Boz u. s. w. Aber so verschieden bei diesen Dichtern die Herren sind, ein Don Quixote, der Maeitre und Herr Pickwick, so verschieden sind auch die Diener Sancho, Jacques, Samweller. In dieser Verschiedenheit bleibt die Gleichheit der Motive, weil sie von der allgemeinen Situation unzertrennlich ist. Die Herren wie die Diener besitzen daher eine gewisse Familienähnlichkeit; allein inner¬ halb derselben gehen sie durch ihre Individualität wieder aus¬ einander und hierin liegt die Originalität der schaffenden Phantasie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr sieht, eine Prise nimmt und Jacques wieder einen Anstoß gibt, die Geschichte seiner Liebschaften fortzuerzählen, ist eine einzige Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat, so wenig als diese mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬ pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als
über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf über die Geſchichte des Romans und ähnlichen die Einſicht gewinnt, daß gewiſſe Stoffe durch verſchiedene Völker, Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieſelben bleiben, ſo kann uns die Phantaſie der Dichter ſehr arm vorkommen; allein dies iſt ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die Schöpferkraft der Phantaſie zeigt ſich vielmehr darin, daß ſie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten Schranken eine ſo große Mannigfaltigkeit der Ausführung zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie das von Herr und Diener, ſo liegen in demſelben ſofort beſtimmte Grenzen, beſtimmte Motive. Herr und Diener machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Luſtſpiels aus. Herr und Diener, das iſt das formale Thema des Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot, der Pickwickier von Boz u. ſ. w. Aber ſo verſchieden bei dieſen Dichtern die Herren ſind, ein Don Quixote, der Maître und Herr Pickwick, ſo verſchieden ſind auch die Diener Sancho, Jacques, Samweller. In dieſer Verſchiedenheit bleibt die Gleichheit der Motive, weil ſie von der allgemeinen Situation unzertrennlich iſt. Die Herren wie die Diener beſitzen daher eine gewiſſe Familienähnlichkeit; allein inner¬ halb derſelben gehen ſie durch ihre Individualität wieder aus¬ einander und hierin liegt die Originalität der ſchaffenden Phantaſie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr ſieht, eine Priſe nimmt und Jacques wieder einen Anſtoß gibt, die Geſchichte ſeiner Liebſchaften fortzuerzählen, iſt eine einzige Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat, ſo wenig als dieſe mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬ pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0225"n="203"/>
über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von <hirendition="#g">Wolf</hi><lb/>
über die Geſchichte des Romans und ähnlichen die Einſicht<lb/>
gewinnt, daß gewiſſe Stoffe durch verſchiedene Völker,<lb/>
Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieſelben bleiben, ſo<lb/>
kann uns die Phantaſie der Dichter ſehr arm vorkommen;<lb/>
allein dies iſt ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die<lb/>
Schöpferkraft der Phantaſie zeigt ſich vielmehr darin, daß<lb/>ſie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten<lb/>
Schranken eine ſo große Mannigfaltigkeit der Ausführung<lb/>
zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie<lb/>
das von Herr und Diener, ſo liegen in demſelben ſofort<lb/>
beſtimmte Grenzen, beſtimmte Motive. Herr und Diener<lb/>
machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Luſtſpiels<lb/>
aus. Herr und Diener, das iſt das formale Thema des<lb/>
Don Quirote von <hirendition="#g">Cervantes</hi>, des Jacques von <hirendition="#g">Diderot</hi>,<lb/>
der Pickwickier von <hirendition="#g">Boz</hi> u. ſ. w. Aber ſo verſchieden bei<lb/>
dieſen Dichtern die Herren ſind, ein Don Quixote, der<lb/><hirendition="#aq">Maître</hi> und Herr Pickwick, ſo verſchieden ſind auch die Diener<lb/>
Sancho, Jacques, Samweller. In dieſer Verſchiedenheit<lb/>
bleibt die Gleichheit der Motive, weil ſie von der allgemeinen<lb/>
Situation unzertrennlich iſt. Die Herren wie die Diener<lb/>
beſitzen daher eine gewiſſe Familienähnlichkeit; allein inner¬<lb/>
halb derſelben gehen ſie durch ihre Individualität wieder aus¬<lb/>
einander und hierin liegt die Originalität der ſchaffenden<lb/>
Phantaſie. Diderot's <hirendition="#aq">Maitre</hi>, wie er nach der Uhr ſieht,<lb/>
eine Priſe nimmt und Jacques wieder einen Anſtoß gibt,<lb/>
die Geſchichte ſeiner Liebſchaften fortzuerzählen, iſt eine einzige<lb/>
Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder<lb/>
mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat,<lb/>ſo wenig als dieſe mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬<lb/>
pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[203/0225]
über die kleinen Erzählungen des Mittelalters, von Wolf
über die Geſchichte des Romans und ähnlichen die Einſicht
gewinnt, daß gewiſſe Stoffe durch verſchiedene Völker,
Zeitalter, Sprachen hindurch immer dieſelben bleiben, ſo
kann uns die Phantaſie der Dichter ſehr arm vorkommen;
allein dies iſt ein Irrthum, denn die Fruchtbarkeit und die
Schöpferkraft der Phantaſie zeigt ſich vielmehr darin, daß
ſie innerhalb der von der Natur des Stoffs bedingten
Schranken eine ſo große Mannigfaltigkeit der Ausführung
zu gewinnen weiß. Nehmen wir z. B. ein Verhältniß, wie
das von Herr und Diener, ſo liegen in demſelben ſofort
beſtimmte Grenzen, beſtimmte Motive. Herr und Diener
machen einen großen Theil des Stoffs des antiken Luſtſpiels
aus. Herr und Diener, das iſt das formale Thema des
Don Quirote von Cervantes, des Jacques von Diderot,
der Pickwickier von Boz u. ſ. w. Aber ſo verſchieden bei
dieſen Dichtern die Herren ſind, ein Don Quixote, der
Maître und Herr Pickwick, ſo verſchieden ſind auch die Diener
Sancho, Jacques, Samweller. In dieſer Verſchiedenheit
bleibt die Gleichheit der Motive, weil ſie von der allgemeinen
Situation unzertrennlich iſt. Die Herren wie die Diener
beſitzen daher eine gewiſſe Familienähnlichkeit; allein inner¬
halb derſelben gehen ſie durch ihre Individualität wieder aus¬
einander und hierin liegt die Originalität der ſchaffenden
Phantaſie. Diderot's Maitre, wie er nach der Uhr ſieht,
eine Priſe nimmt und Jacques wieder einen Anſtoß gibt,
die Geſchichte ſeiner Liebſchaften fortzuerzählen, iſt eine einzige
Figur, die zwar als Gattung, aber nicht individuell weder
mit Don Quixote noch mit Herrn Picknick etwas gemein hat,
ſo wenig als dieſe mit ihr. Die Nachahmung als bloße Co¬
pirung, als formelle, müßige Wiederholung, wohl gar als
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/225>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.