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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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allein es soll dies in der Form individueller Freiheit thun,
welche die Nothwendigkeit des Allgemeinen in ihrer Eigen¬
thümlichkeit vereinzigt. Das Gewöhnliche, Alltägliche, wird
durch seinen Mangel an Unterscheidung nichtssagend, lang¬
weilig, gemein und geht damit in die Häßlichkeit über.
Man mißverstehe dies nicht. Nicht das Schöne wird unschön,
das ist unmöglich, aber die Häufigkeit der Wiederholung,
die Breite einer massenhaften Existenz, läßt es gleichgültig
werden, weil ein anderes Exemplar als eine bloße Tautologie
ohne den Reiz der Neuheit ist. In den Motiven wird
jede Kunst sich innerhalb eines gewissen Kreislaufs bewegen
müssen. Sie hat insofern eine Grenze der Erfindung. Aber
diese im Begriff der Sache liegende Wiederholung ist kein
Vorwurf für die Kunst; es kommt darauf an, daß sie die
an sich immer gleichen Motive durch die Individualisirung,
uns neu erscheinen lasse. Man erinnere sich z. B. daß man
alle tragischen Collisionen ausgerechnet hat; mehr als acht
und zwanzig sind nach Benjamin Constant nicht möglich;
diese werden also, wie der Dichter es auch anfangen möge,
sich immer wieder darbieten; er hat an ihnen eine ethische
Schranke seiner Production, allein er muß es verstehen, diese
unvermeidliche Gleichheit des Inhalts so zu behandeln, daß
der von ihm gewählte, doch als ein neuer, einziger Fall
erscheint. Die bloße Wiederholung mit einer oberflächlichen,
nur formellen Differenz genügt uns nicht. Die Unmöglich¬
lichkeit, die Idee selber und ihre Nothwendigkeit zu verändern,
begreifen wir; für die Erscheinung aber fordern wir mit
Recht, daß der Künstler sie uns in einer wieder andern,
überraschenden Weise darstelle. Wenn man aus Werken,
wie die von Valentin Schmidt über die romantische Poesie,
von Dunlop's history of the fiction, von v. d. Hagen

allein es ſoll dies in der Form individueller Freiheit thun,
welche die Nothwendigkeit des Allgemeinen in ihrer Eigen¬
thümlichkeit vereinzigt. Das Gewöhnliche, Alltägliche, wird
durch ſeinen Mangel an Unterſcheidung nichtsſagend, lang¬
weilig, gemein und geht damit in die Häßlichkeit über.
Man mißverſtehe dies nicht. Nicht das Schöne wird unſchön,
das iſt unmöglich, aber die Häufigkeit der Wiederholung,
die Breite einer maſſenhaften Exiſtenz, läßt es gleichgültig
werden, weil ein anderes Exemplar als eine bloße Tautologie
ohne den Reiz der Neuheit iſt. In den Motiven wird
jede Kunſt ſich innerhalb eines gewiſſen Kreislaufs bewegen
müſſen. Sie hat inſofern eine Grenze der Erfindung. Aber
dieſe im Begriff der Sache liegende Wiederholung iſt kein
Vorwurf für die Kunſt; es kommt darauf an, daß ſie die
an ſich immer gleichen Motive durch die Individualiſirung,
uns neu erſcheinen laſſe. Man erinnere ſich z. B. daß man
alle tragiſchen Colliſionen ausgerechnet hat; mehr als acht
und zwanzig ſind nach Benjamin Conſtant nicht möglich;
dieſe werden alſo, wie der Dichter es auch anfangen möge,
ſich immer wieder darbieten; er hat an ihnen eine ethiſche
Schranke ſeiner Production, allein er muß es verſtehen, dieſe
unvermeidliche Gleichheit des Inhalts ſo zu behandeln, daß
der von ihm gewählte, doch als ein neuer, einziger Fall
erſcheint. Die bloße Wiederholung mit einer oberflächlichen,
nur formellen Differenz genügt uns nicht. Die Unmöglich¬
lichkeit, die Idee ſelber und ihre Nothwendigkeit zu verändern,
begreifen wir; für die Erſcheinung aber fordern wir mit
Recht, daß der Künſtler ſie uns in einer wieder andern,
überraſchenden Weiſe darſtelle. Wenn man aus Werken,
wie die von Valentin Schmidt über die romantiſche Poeſie,
von Dunlop's history of the fiction, von v. d. Hagen

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[202/0224] allein es ſoll dies in der Form individueller Freiheit thun, welche die Nothwendigkeit des Allgemeinen in ihrer Eigen¬ thümlichkeit vereinzigt. Das Gewöhnliche, Alltägliche, wird durch ſeinen Mangel an Unterſcheidung nichtsſagend, lang¬ weilig, gemein und geht damit in die Häßlichkeit über. Man mißverſtehe dies nicht. Nicht das Schöne wird unſchön, das iſt unmöglich, aber die Häufigkeit der Wiederholung, die Breite einer maſſenhaften Exiſtenz, läßt es gleichgültig werden, weil ein anderes Exemplar als eine bloße Tautologie ohne den Reiz der Neuheit iſt. In den Motiven wird jede Kunſt ſich innerhalb eines gewiſſen Kreislaufs bewegen müſſen. Sie hat inſofern eine Grenze der Erfindung. Aber dieſe im Begriff der Sache liegende Wiederholung iſt kein Vorwurf für die Kunſt; es kommt darauf an, daß ſie die an ſich immer gleichen Motive durch die Individualiſirung, uns neu erſcheinen laſſe. Man erinnere ſich z. B. daß man alle tragiſchen Colliſionen ausgerechnet hat; mehr als acht und zwanzig ſind nach Benjamin Conſtant nicht möglich; dieſe werden alſo, wie der Dichter es auch anfangen möge, ſich immer wieder darbieten; er hat an ihnen eine ethiſche Schranke ſeiner Production, allein er muß es verſtehen, dieſe unvermeidliche Gleichheit des Inhalts ſo zu behandeln, daß der von ihm gewählte, doch als ein neuer, einziger Fall erſcheint. Die bloße Wiederholung mit einer oberflächlichen, nur formellen Differenz genügt uns nicht. Die Unmöglich¬ lichkeit, die Idee ſelber und ihre Nothwendigkeit zu verändern, begreifen wir; für die Erſcheinung aber fordern wir mit Recht, daß der Künſtler ſie uns in einer wieder andern, überraſchenden Weiſe darſtelle. Wenn man aus Werken, wie die von Valentin Schmidt über die romantiſche Poeſie, von Dunlop's history of the fiction, von v. d. Hagen

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/224>, abgerufen am 01.05.2024.