Caricatur. Caricare heißt im Italienischen überladen und wir definiren daher die Caricatur gewöhnlich als die Ueber¬ treibung des Charakterischen. Im Allgemeinen ist diese De¬ finition richtig; im Besondern aber muß sie durch den Zu¬ sammenhang, in welchem eine Erscheinung steht, genauer be¬ stimmt werden. Das Charakterische ist das Element der In¬ dividualisirung. Uebertreibt dieselbe das Individuelle, so ver¬ schwindet das Allgemeine dagegen, indem das Inviduelle, so zu sagen, sich zur Gattung aufspreizt. Eben hierdurch aber erzeugt sich die Aufforderung, den Contrast der Hyperindivi¬ dualisirung mit dem Maaße der nothwendigen Allgemeinheit zu vergleichen und eben in dieser Reflexion liegt das Wesen der Caricatur. Das absolut Schöne gleicht die Extreme des Erhabenen und Gefälligen positiv in sich aus, die Caricatur hingegen treibt die Extreme des Gemeinen und Widrigen hervor, indem sie aber zugleich das Erhabene und Gefällige durch¬ blicken läßt und das Erhabene als das Gefällige, das Ge¬ fällige als das Erhabene, das Gemeine als das Erhabene, das Widrige als das Gefällige und die Nullität der charakter¬ losen Leerheit als das Absolutschöne setzt.
Hieraus wird die große Vielseitigkeit des Begriffs der Caricatur, ja die Möglichkeit seiner Ausdehnung auf den Be¬ griff des Häßlichen überhaupt erhellen. Das nur Formlose oder Incorrecte sowohl, als das nur Gemeine oder Widrige ist deshalb noch keine Caricatur. Das Unsymmetrische z. B. ist noch keine Caricatur; es ist die einfache Negation der Symmetrie. Allein eine Uebertreibung der Symmetrie, wo sie schon gar nicht mehr hingehört, wird als Verzerrung der¬ selben zu einer Carikirung, zu einem Hinausgehen über das dem Begriff der Sache nach erforderliche Maaß des Symme¬ trischen. Oder daß Jemand Sprichwörter in seine Rede ein¬
Caricatur. Caricare heißt im Italieniſchen überladen und wir definiren daher die Caricatur gewöhnlich als die Ueber¬ treibung des Charakteriſchen. Im Allgemeinen iſt dieſe De¬ finition richtig; im Beſondern aber muß ſie durch den Zu¬ ſammenhang, in welchem eine Erſcheinung ſteht, genauer be¬ ſtimmt werden. Das Charakteriſche iſt das Element der In¬ dividualiſirung. Uebertreibt dieſelbe das Individuelle, ſo ver¬ ſchwindet das Allgemeine dagegen, indem das Inviduelle, ſo zu ſagen, ſich zur Gattung aufſpreizt. Eben hierdurch aber erzeugt ſich die Aufforderung, den Contraſt der Hyperindivi¬ dualiſirung mit dem Maaße der nothwendigen Allgemeinheit zu vergleichen und eben in dieſer Reflexion liegt das Weſen der Caricatur. Das abſolut Schöne gleicht die Extreme des Erhabenen und Gefälligen poſitiv in ſich aus, die Caricatur hingegen treibt die Extreme des Gemeinen und Widrigen hervor, indem ſie aber zugleich das Erhabene und Gefällige durch¬ blicken läßt und das Erhabene als das Gefällige, das Ge¬ fällige als das Erhabene, das Gemeine als das Erhabene, das Widrige als das Gefällige und die Nullität der charakter¬ loſen Leerheit als das Abſolutſchöne ſetzt.
Hieraus wird die große Vielſeitigkeit des Begriffs der Caricatur, ja die Möglichkeit ſeiner Ausdehnung auf den Be¬ griff des Häßlichen überhaupt erhellen. Das nur Formloſe oder Incorrecte ſowohl, als das nur Gemeine oder Widrige iſt deshalb noch keine Caricatur. Das Unſymmetriſche z. B. iſt noch keine Caricatur; es iſt die einfache Negation der Symmetrie. Allein eine Uebertreibung der Symmetrie, wo ſie ſchon gar nicht mehr hingehört, wird als Verzerrung der¬ ſelben zu einer Carikirung, zu einem Hinausgehen über das dem Begriff der Sache nach erforderliche Maaß des Symme¬ triſchen. Oder daß Jemand Sprichwörter in ſeine Rede ein¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0193"n="171"/>
Caricatur. <hirendition="#aq">Caricare</hi> heißt im Italieniſchen überladen und<lb/>
wir definiren daher die Caricatur gewöhnlich als die Ueber¬<lb/>
treibung des Charakteriſchen. Im Allgemeinen iſt dieſe De¬<lb/>
finition richtig; im Beſondern aber muß ſie durch den Zu¬<lb/>ſammenhang, in welchem eine Erſcheinung ſteht, genauer be¬<lb/>ſtimmt werden. Das Charakteriſche iſt das Element der In¬<lb/>
dividualiſirung. Uebertreibt dieſelbe das Individuelle, ſo ver¬<lb/>ſchwindet das Allgemeine dagegen, indem das Inviduelle, ſo<lb/>
zu ſagen, ſich zur Gattung aufſpreizt. Eben hierdurch aber<lb/>
erzeugt ſich die Aufforderung, den Contraſt der Hyperindivi¬<lb/>
dualiſirung mit dem Maaße der nothwendigen Allgemeinheit<lb/>
zu vergleichen und eben in dieſer Reflexion liegt das Weſen<lb/>
der Caricatur. Das abſolut Schöne gleicht die Extreme des<lb/>
Erhabenen und Gefälligen poſitiv in ſich aus, die Caricatur<lb/>
hingegen treibt die Extreme des Gemeinen und Widrigen hervor,<lb/>
indem ſie aber zugleich das Erhabene und Gefällige durch¬<lb/>
blicken läßt und das Erhabene als das Gefällige, das Ge¬<lb/>
fällige als das Erhabene, das Gemeine als das Erhabene,<lb/>
das Widrige als das Gefällige und die Nullität der charakter¬<lb/>
loſen Leerheit als das Abſolutſchöne ſetzt.</p><lb/><p>Hieraus wird die große Vielſeitigkeit des Begriffs der<lb/>
Caricatur, ja die Möglichkeit ſeiner Ausdehnung auf den Be¬<lb/>
griff des Häßlichen überhaupt erhellen. Das nur Formloſe<lb/>
oder Incorrecte ſowohl, als das nur Gemeine oder Widrige<lb/>
iſt deshalb noch keine Caricatur. Das Unſymmetriſche z. B.<lb/>
iſt noch keine Caricatur; es iſt die einfache Negation der<lb/>
Symmetrie. Allein eine Uebertreibung der Symmetrie, wo<lb/>ſie ſchon gar nicht mehr hingehört, wird als Verzerrung der¬<lb/>ſelben zu einer Carikirung, zu einem Hinausgehen über das<lb/>
dem Begriff der Sache nach erforderliche Maaß des Symme¬<lb/>
triſchen. Oder daß Jemand Sprichwörter in ſeine Rede ein¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[171/0193]
Caricatur. Caricare heißt im Italieniſchen überladen und
wir definiren daher die Caricatur gewöhnlich als die Ueber¬
treibung des Charakteriſchen. Im Allgemeinen iſt dieſe De¬
finition richtig; im Beſondern aber muß ſie durch den Zu¬
ſammenhang, in welchem eine Erſcheinung ſteht, genauer be¬
ſtimmt werden. Das Charakteriſche iſt das Element der In¬
dividualiſirung. Uebertreibt dieſelbe das Individuelle, ſo ver¬
ſchwindet das Allgemeine dagegen, indem das Inviduelle, ſo
zu ſagen, ſich zur Gattung aufſpreizt. Eben hierdurch aber
erzeugt ſich die Aufforderung, den Contraſt der Hyperindivi¬
dualiſirung mit dem Maaße der nothwendigen Allgemeinheit
zu vergleichen und eben in dieſer Reflexion liegt das Weſen
der Caricatur. Das abſolut Schöne gleicht die Extreme des
Erhabenen und Gefälligen poſitiv in ſich aus, die Caricatur
hingegen treibt die Extreme des Gemeinen und Widrigen hervor,
indem ſie aber zugleich das Erhabene und Gefällige durch¬
blicken läßt und das Erhabene als das Gefällige, das Ge¬
fällige als das Erhabene, das Gemeine als das Erhabene,
das Widrige als das Gefällige und die Nullität der charakter¬
loſen Leerheit als das Abſolutſchöne ſetzt.
Hieraus wird die große Vielſeitigkeit des Begriffs der
Caricatur, ja die Möglichkeit ſeiner Ausdehnung auf den Be¬
griff des Häßlichen überhaupt erhellen. Das nur Formloſe
oder Incorrecte ſowohl, als das nur Gemeine oder Widrige
iſt deshalb noch keine Caricatur. Das Unſymmetriſche z. B.
iſt noch keine Caricatur; es iſt die einfache Negation der
Symmetrie. Allein eine Uebertreibung der Symmetrie, wo
ſie ſchon gar nicht mehr hingehört, wird als Verzerrung der¬
ſelben zu einer Carikirung, zu einem Hinausgehen über das
dem Begriff der Sache nach erforderliche Maaß des Symme¬
triſchen. Oder daß Jemand Sprichwörter in ſeine Rede ein¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 171. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/193>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.