Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

Göthe hat in seiner Bearbeitung von Diderots Versuch
über die Malerei sich demselben insofern entgegengesetzt, als
Diderot die pragmatische Nothwendigkeit des Richtigen mit
der ästhetischen Wahrheit des Ideals verwechselte. In der
wohlbegründeten Polemik, welche er dem Pedantismus der
akademischen Steifheit entgegensetzte, wurde er zum unbe¬
dingten Apologeten der Natur, die, ihm zufolge, nichts In¬
correctes macht, denn sagt er, jede Gestalt, sie mag schön
oder häßlich sein, hat ihre Ursache, und unter allen existirenden
Wesen ist keins, das nicht wäre, wie es sein soll. Göthe,
der Apologet der nach Regeln producirenden Kunst, geht
seinerseits so weit, zu behaupten, daß man eher sagen dürfte:
Die Natur ist niemals correct! "Die Natur arbeitet auf
Leben und Dasein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres
Geschöpfs, unbekümmert, ob es schön oder häßlich erscheine.
Eine Gestalt, die von Geburt an schön zu sein bestimmt
war, kann, durch irgend einen Zufall, in Einem Theile ver¬
letzt werden: sogleich leiden andre Theile mit. Denn nun
braucht die Natur Kräfte, den verletzten Theil wiederherzu¬
stellen, und so wird den übrigen etwas entzogen, wodurch
ihre Entwickelung durchaus gestört werden muß. Das Ge¬
schöpf wird nicht mehr, was es sein sollte, sondern was es
sein kann." Die Zucht der Schule und den unschätzbaren
Werth ihrer Erfahrung hervorhebend ruft Göthe weiterhin
aus: "welches Genie der Welt wird, auf Einmal, durch das
bloße Anschauen der Natur, ohne Ueberlieferung, sich zu
Proportionen entscheiden, die ächten Formen ergreifen, den
wahren Styl erwählen und sich selbst eine Alles umfassende
Methode erschaffen!" Diese Tendenz hat er 1799 in dem Ent¬
wurf eines Werkes verfolgt, von welchem zu bedauern ist,
daß er keine Ausführung, auch nicht von einem Göthe¬

Göthe hat in ſeiner Bearbeitung von Diderots Verſuch
über die Malerei ſich demſelben inſofern entgegengeſetzt, als
Diderot die pragmatiſche Nothwendigkeit des Richtigen mit
der äſthetiſchen Wahrheit des Ideals verwechſelte. In der
wohlbegründeten Polemik, welche er dem Pedantismus der
akademiſchen Steifheit entgegenſetzte, wurde er zum unbe¬
dingten Apologeten der Natur, die, ihm zufolge, nichts In¬
correctes macht, denn ſagt er, jede Geſtalt, ſie mag ſchön
oder häßlich ſein, hat ihre Urſache, und unter allen exiſtirenden
Weſen iſt keins, das nicht wäre, wie es ſein ſoll. Göthe,
der Apologet der nach Regeln producirenden Kunſt, geht
ſeinerſeits ſo weit, zu behaupten, daß man eher ſagen dürfte:
Die Natur iſt niemals correct! „Die Natur arbeitet auf
Leben und Daſein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres
Geſchöpfs, unbekümmert, ob es ſchön oder häßlich erſcheine.
Eine Geſtalt, die von Geburt an ſchön zu ſein beſtimmt
war, kann, durch irgend einen Zufall, in Einem Theile ver¬
letzt werden: ſogleich leiden andre Theile mit. Denn nun
braucht die Natur Kräfte, den verletzten Theil wiederherzu¬
ſtellen, und ſo wird den übrigen etwas entzogen, wodurch
ihre Entwickelung durchaus geſtört werden muß. Das Ge¬
ſchöpf wird nicht mehr, was es ſein ſollte, ſondern was es
ſein kann.“ Die Zucht der Schule und den unſchätzbaren
Werth ihrer Erfahrung hervorhebend ruft Göthe weiterhin
aus: „welches Genie der Welt wird, auf Einmal, durch das
bloße Anſchauen der Natur, ohne Ueberlieferung, ſich zu
Proportionen entſcheiden, die ächten Formen ergreifen, den
wahren Styl erwählen und ſich ſelbſt eine Alles umfaſſende
Methode erſchaffen!“ Dieſe Tendenz hat er 1799 in dem Ent¬
wurf eines Werkes verfolgt, von welchem zu bedauern iſt,
daß er keine Ausführung, auch nicht von einem Göthe¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0168" n="146"/><hi rendition="#g">Göthe</hi> hat in &#x017F;einer Bearbeitung von <hi rendition="#g">Diderots</hi> Ver&#x017F;uch<lb/>
über die Malerei &#x017F;ich dem&#x017F;elben in&#x017F;ofern entgegenge&#x017F;etzt, als<lb/><hi rendition="#g">Diderot</hi> die pragmati&#x017F;che Nothwendigkeit des Richtigen mit<lb/>
der ä&#x017F;theti&#x017F;chen Wahrheit des Ideals verwech&#x017F;elte. In der<lb/>
wohlbegründeten Polemik, welche er dem Pedantismus der<lb/>
akademi&#x017F;chen Steifheit entgegen&#x017F;etzte, wurde er zum unbe¬<lb/>
dingten Apologeten der Natur, die, ihm zufolge, nichts In¬<lb/>
correctes macht, denn &#x017F;agt er, jede Ge&#x017F;talt, &#x017F;ie mag &#x017F;chön<lb/>
oder häßlich &#x017F;ein, hat ihre Ur&#x017F;ache, und unter allen exi&#x017F;tirenden<lb/>
We&#x017F;en i&#x017F;t keins, das nicht wäre, wie es &#x017F;ein &#x017F;oll. <hi rendition="#g">Göthe</hi>,<lb/>
der Apologet der nach Regeln producirenden Kun&#x017F;t, geht<lb/>
&#x017F;einer&#x017F;eits &#x017F;o weit, zu behaupten, daß man eher &#x017F;agen dürfte:<lb/>
Die Natur i&#x017F;t niemals correct! &#x201E;Die Natur arbeitet auf<lb/>
Leben und Da&#x017F;ein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres<lb/>
Ge&#x017F;chöpfs, unbekümmert, ob es &#x017F;chön oder häßlich er&#x017F;cheine.<lb/>
Eine Ge&#x017F;talt, die von Geburt an &#x017F;chön zu &#x017F;ein be&#x017F;timmt<lb/>
war, kann, durch irgend einen Zufall, in Einem Theile ver¬<lb/>
letzt werden: &#x017F;ogleich leiden andre Theile mit. Denn nun<lb/>
braucht die Natur Kräfte, den verletzten Theil wiederherzu¬<lb/>
&#x017F;tellen, und &#x017F;o wird den übrigen etwas entzogen, wodurch<lb/>
ihre Entwickelung durchaus ge&#x017F;tört werden muß. Das Ge¬<lb/>
&#x017F;chöpf wird nicht mehr, was es &#x017F;ein <hi rendition="#g">&#x017F;ollte</hi>, &#x017F;ondern was es<lb/>
&#x017F;ein <hi rendition="#g">kann</hi>.&#x201C; Die Zucht der Schule und den un&#x017F;chätzbaren<lb/>
Werth ihrer Erfahrung hervorhebend ruft <hi rendition="#g">Göthe</hi> weiterhin<lb/>
aus: &#x201E;welches Genie der Welt wird, auf Einmal, durch das<lb/>
bloße An&#x017F;chauen der Natur, ohne Ueberlieferung, &#x017F;ich zu<lb/>
Proportionen ent&#x017F;cheiden, die ächten Formen ergreifen, den<lb/>
wahren Styl erwählen und &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t eine Alles umfa&#x017F;&#x017F;ende<lb/>
Methode er&#x017F;chaffen!&#x201C; Die&#x017F;e Tendenz hat er 1799 in dem Ent¬<lb/>
wurf eines Werkes verfolgt, von welchem zu bedauern i&#x017F;t,<lb/>
daß er keine Ausführung, auch nicht von einem Göthe¬<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0168] Göthe hat in ſeiner Bearbeitung von Diderots Verſuch über die Malerei ſich demſelben inſofern entgegengeſetzt, als Diderot die pragmatiſche Nothwendigkeit des Richtigen mit der äſthetiſchen Wahrheit des Ideals verwechſelte. In der wohlbegründeten Polemik, welche er dem Pedantismus der akademiſchen Steifheit entgegenſetzte, wurde er zum unbe¬ dingten Apologeten der Natur, die, ihm zufolge, nichts In¬ correctes macht, denn ſagt er, jede Geſtalt, ſie mag ſchön oder häßlich ſein, hat ihre Urſache, und unter allen exiſtirenden Weſen iſt keins, das nicht wäre, wie es ſein ſoll. Göthe, der Apologet der nach Regeln producirenden Kunſt, geht ſeinerſeits ſo weit, zu behaupten, daß man eher ſagen dürfte: Die Natur iſt niemals correct! „Die Natur arbeitet auf Leben und Daſein, auf Erhaltung und Fortpflanzung ihres Geſchöpfs, unbekümmert, ob es ſchön oder häßlich erſcheine. Eine Geſtalt, die von Geburt an ſchön zu ſein beſtimmt war, kann, durch irgend einen Zufall, in Einem Theile ver¬ letzt werden: ſogleich leiden andre Theile mit. Denn nun braucht die Natur Kräfte, den verletzten Theil wiederherzu¬ ſtellen, und ſo wird den übrigen etwas entzogen, wodurch ihre Entwickelung durchaus geſtört werden muß. Das Ge¬ ſchöpf wird nicht mehr, was es ſein ſollte, ſondern was es ſein kann.“ Die Zucht der Schule und den unſchätzbaren Werth ihrer Erfahrung hervorhebend ruft Göthe weiterhin aus: „welches Genie der Welt wird, auf Einmal, durch das bloße Anſchauen der Natur, ohne Ueberlieferung, ſich zu Proportionen entſcheiden, die ächten Formen ergreifen, den wahren Styl erwählen und ſich ſelbſt eine Alles umfaſſende Methode erſchaffen!“ Dieſe Tendenz hat er 1799 in dem Ent¬ wurf eines Werkes verfolgt, von welchem zu bedauern iſt, daß er keine Ausführung, auch nicht von einem Göthe¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/168
Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/168>, abgerufen am 22.11.2024.