ähnliche Bewußtlosigkeit des Künstlers über sein Verhältniß zu dem Ton, den er von vorn herein hätte fixiren müssen. Manche Widersprüche entstehen auch dadurch, daß andere, als nur ästhetische Motive die Darstellung bestimmten. Die Frazzen z. B., die wir an den Säulknäufen Gothischer Kirchen antreffen und die bekanntlich oft sehr cynische Ob¬ jecte in sich schließen, können als ein Luxus der Phantasie, der die Macht des totalen Eindrucks nicht zu schwächen ver¬ mag, geduldet werden; sie hatten aber nicht in ästhetischen Gründen, sondern in andern Beziehungen ihren Ursprung, die zum Theil der socialen Stellung und Tradition der Bau¬ hütten angehörten. Aus dem Styl des Ganzen können sie nicht abgeleitet werden und dem harmonischen Sinn eines Griechen wären sie als ungehörig erschienen. Die Verstöße sind oft nicht grell, aber doch fühlbar. Hölty's Trink¬ lied (Ein Leben, wie im Paradies, gewährt uns Vater Rhein) ist im mittlern Styl gedichtet, der in den leichten überklingt. Wenn Hölty aber zuletzt singt:
Es lebe jeder Deutsche Mann, Der seinen Rheinwein trinkt. So lang er's Kelchglas halten kann, Und dann zu Boden sinkt!
so geht diese letztere Wendung aus dem mittlern und leichten Ton in den niedern über. Trinken, bis man zu Boden sinkt -- das ist brutal. Wenn das Leben im Paradiese, welches der Vater Rhein gewährt, mit diesem Resultat endigen soll, so ist es nicht sehr einladend. Und einem solchen Zecher noch ein Lebehoch auszubringen, ist auch nicht ansprechend. In derselben Strophe läßt Hölty die Winzerin hoch leben, die er sich zur Königin erkor. Wie nahe lag es, von hier aus einen ganz andern, edleren Schluß zu ge¬
ähnliche Bewußtloſigkeit des Künſtlers über ſein Verhältniß zu dem Ton, den er von vorn herein hätte fixiren müſſen. Manche Widerſprüche entſtehen auch dadurch, daß andere, als nur äſthetiſche Motive die Darſtellung beſtimmten. Die Frazzen z. B., die wir an den Säulknäufen Gothiſcher Kirchen antreffen und die bekanntlich oft ſehr cyniſche Ob¬ jecte in ſich ſchließen, können als ein Luxus der Phantaſie, der die Macht des totalen Eindrucks nicht zu ſchwächen ver¬ mag, geduldet werden; ſie hatten aber nicht in äſthetiſchen Gründen, ſondern in andern Beziehungen ihren Urſprung, die zum Theil der ſocialen Stellung und Tradition der Bau¬ hütten angehörten. Aus dem Styl des Ganzen können ſie nicht abgeleitet werden und dem harmoniſchen Sinn eines Griechen wären ſie als ungehörig erſchienen. Die Verſtöße ſind oft nicht grell, aber doch fühlbar. Hölty's Trink¬ lied (Ein Leben, wie im Paradies, gewährt uns Vater Rhein) iſt im mittlern Styl gedichtet, der in den leichten überklingt. Wenn Hölty aber zuletzt ſingt:
Es lebe jeder Deutſche Mann, Der ſeinen Rheinwein trinkt. So lang er's Kelchglas halten kann, Und dann zu Boden ſinkt!
ſo geht dieſe letztere Wendung aus dem mittlern und leichten Ton in den niedern über. Trinken, bis man zu Boden ſinkt — das iſt brutal. Wenn das Leben im Paradieſe, welches der Vater Rhein gewährt, mit dieſem Reſultat endigen ſoll, ſo iſt es nicht ſehr einladend. Und einem ſolchen Zecher noch ein Lebehoch auszubringen, iſt auch nicht anſprechend. In derſelben Strophe läßt Hölty die Winzerin hoch leben, die er ſich zur Königin erkor. Wie nahe lag es, von hier aus einen ganz andern, edleren Schluß zu ge¬
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ähnliche Bewußtloſigkeit des Künſtlers über ſein Verhältniß
zu dem Ton, den er von vorn herein hätte fixiren müſſen.
Manche Widerſprüche entſtehen auch dadurch, daß andere,
als nur äſthetiſche Motive die Darſtellung beſtimmten. Die
Frazzen z. B., die wir an den Säulknäufen Gothiſcher
Kirchen antreffen und die bekanntlich oft ſehr cyniſche Ob¬
jecte in ſich ſchließen, können als ein Luxus der Phantaſie,
der die Macht des totalen Eindrucks nicht zu ſchwächen ver¬
mag, geduldet werden; ſie hatten aber nicht in äſthetiſchen
Gründen, ſondern in andern Beziehungen ihren Urſprung,
die zum Theil der ſocialen Stellung und Tradition der Bau¬
hütten angehörten. Aus dem Styl des Ganzen können ſie
nicht abgeleitet werden und dem harmoniſchen Sinn eines
Griechen wären ſie als ungehörig erſchienen. Die Verſtöße
ſind oft nicht grell, aber doch fühlbar. Hölty's Trink¬
lied (Ein Leben, wie im Paradies, gewährt uns Vater
Rhein) iſt im mittlern Styl gedichtet, der in den leichten
überklingt. Wenn Hölty aber zuletzt ſingt:
Es lebe jeder Deutſche Mann,
Der ſeinen Rheinwein trinkt.
So lang er's Kelchglas halten kann,
Und dann zu Boden ſinkt!
ſo geht dieſe letztere Wendung aus dem mittlern und leichten
Ton in den niedern über. Trinken, bis man zu Boden
ſinkt — das iſt brutal. Wenn das Leben im Paradieſe,
welches der Vater Rhein gewährt, mit dieſem Reſultat
endigen ſoll, ſo iſt es nicht ſehr einladend. Und einem
ſolchen Zecher noch ein Lebehoch auszubringen, iſt auch nicht
anſprechend. In derſelben Strophe läßt Hölty die Winzerin
hoch leben, die er ſich zur Königin erkor. Wie nahe lag es,
von hier aus einen ganz andern, edleren Schluß zu ge¬
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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/162>, abgerufen am 16.02.2025.
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