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Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853.

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nicht. Sollten diese Hörner ernstlich auf Schönheit Anspruch
machen? Unmöglich. Wozu also existirten sie? Offenbar
nur, um einer tollen Laune des übermüthig spielenden Geistes
zu genügen. Man erinnere sich jener Trachten des Direc¬
toriums, wie Wattier sie so trefflich auf jenem Bild in
der Galerie Moreau gemalt hat. Während die Frauen als
merveuilleuses Hals und Busen, die Arme, ja, durch den
Seitenschlitz der Tunika mehr als nur die Waden bloß
trugen, während sie also die Natur enthüllten, sehen wir die
Dandys als Incroyables recht im Gegensatz die Natur durch
stupende Haarwulste, durch steife breite Kinntücher, durch
seltsam zugespitzte Rockschöße gleichsam unkenntlich machen.
Solcher Gestalten erinnere man sich, um einzugestehen,
daß die Geschichte mit ihren phantastischen Formationen
oft mitten am sonnenhellen Tage in die Traumwelt überzu¬
schwanken scheint.

Wenden wir uns zur Kunst zurück, so werden wir
für ihre Phantastik eine ästhetische Grenze anzuerkennen
haben, nicht was die Richtigkeit, wohl aber, was die Wahr¬
heit
der Gebilde anbetrifft. Sie müssen uns mit der Illusion
ergreifen, zwar kein directes empirisches Gegenbild, jedoch
eine gewisse Realität zu haben. Dies Verhältniß nennen
wir die ideelle Wahrscheinlichkeit Unserm Verstand
widersprechen sie und doch müssen sie sich ihn durch ihre
Einheit in ihren Widersprüchen, durch die Natürlichkeit in
ihrer Unnatur, durch die Wirklichkeit in ihrer Unmöglichkeit
unterwerfen. Wir müssen anerkennen, daß solche Geschöpfe
der Phantasie, wie Chimären, Hekatoncheiren, Centauren,
Sphinxe u. s. w. anatomisch und physiologisch unmöglich
wären, aber doch müssen sie uns in solcher Harmonie mit
sich erscheinen, daß bei ihrem Anblick ein Zweifel an ihrer

nicht. Sollten dieſe Hörner ernſtlich auf Schönheit Anſpruch
machen? Unmöglich. Wozu alſo exiſtirten ſie? Offenbar
nur, um einer tollen Laune des übermüthig ſpielenden Geiſtes
zu genügen. Man erinnere ſich jener Trachten des Direc¬
toriums, wie Wattier ſie ſo trefflich auf jenem Bild in
der Galerie Moreau gemalt hat. Während die Frauen als
merveuilleuses Hals und Buſen, die Arme, ja, durch den
Seitenſchlitz der Tunika mehr als nur die Waden bloß
trugen, während ſie alſo die Natur enthüllten, ſehen wir die
Dandys als Incroyables recht im Gegenſatz die Natur durch
ſtupende Haarwulſte, durch ſteife breite Kinntücher, durch
ſeltſam zugeſpitzte Rockſchöße gleichſam unkenntlich machen.
Solcher Geſtalten erinnere man ſich, um einzugeſtehen,
daß die Geſchichte mit ihren phantaſtiſchen Formationen
oft mitten am ſonnenhellen Tage in die Traumwelt überzu¬
ſchwanken ſcheint.

Wenden wir uns zur Kunſt zurück, ſo werden wir
für ihre Phantaſtik eine äſthetiſche Grenze anzuerkennen
haben, nicht was die Richtigkeit, wohl aber, was die Wahr¬
heit
der Gebilde anbetrifft. Sie müſſen uns mit der Illuſion
ergreifen, zwar kein directes empiriſches Gegenbild, jedoch
eine gewiſſe Realität zu haben. Dies Verhältniß nennen
wir die ideelle Wahrſcheinlichkeit Unſerm Verſtand
widerſprechen ſie und doch müſſen ſie ſich ihn durch ihre
Einheit in ihren Widerſprüchen, durch die Natürlichkeit in
ihrer Unnatur, durch die Wirklichkeit in ihrer Unmöglichkeit
unterwerfen. Wir müſſen anerkennen, daß ſolche Geſchöpfe
der Phantaſie, wie Chimären, Hekatoncheiren, Centauren,
Sphinxe u. ſ. w. anatomiſch und phyſiologiſch unmöglich
wären, aber doch müſſen ſie uns in ſolcher Harmonie mit
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[133/0155] nicht. Sollten dieſe Hörner ernſtlich auf Schönheit Anſpruch machen? Unmöglich. Wozu alſo exiſtirten ſie? Offenbar nur, um einer tollen Laune des übermüthig ſpielenden Geiſtes zu genügen. Man erinnere ſich jener Trachten des Direc¬ toriums, wie Wattier ſie ſo trefflich auf jenem Bild in der Galerie Moreau gemalt hat. Während die Frauen als merveuilleuses Hals und Buſen, die Arme, ja, durch den Seitenſchlitz der Tunika mehr als nur die Waden bloß trugen, während ſie alſo die Natur enthüllten, ſehen wir die Dandys als Incroyables recht im Gegenſatz die Natur durch ſtupende Haarwulſte, durch ſteife breite Kinntücher, durch ſeltſam zugeſpitzte Rockſchöße gleichſam unkenntlich machen. Solcher Geſtalten erinnere man ſich, um einzugeſtehen, daß die Geſchichte mit ihren phantaſtiſchen Formationen oft mitten am ſonnenhellen Tage in die Traumwelt überzu¬ ſchwanken ſcheint. Wenden wir uns zur Kunſt zurück, ſo werden wir für ihre Phantaſtik eine äſthetiſche Grenze anzuerkennen haben, nicht was die Richtigkeit, wohl aber, was die Wahr¬ heit der Gebilde anbetrifft. Sie müſſen uns mit der Illuſion ergreifen, zwar kein directes empiriſches Gegenbild, jedoch eine gewiſſe Realität zu haben. Dies Verhältniß nennen wir die ideelle Wahrſcheinlichkeit Unſerm Verſtand widerſprechen ſie und doch müſſen ſie ſich ihn durch ihre Einheit in ihren Widerſprüchen, durch die Natürlichkeit in ihrer Unnatur, durch die Wirklichkeit in ihrer Unmöglichkeit unterwerfen. Wir müſſen anerkennen, daß ſolche Geſchöpfe der Phantaſie, wie Chimären, Hekatoncheiren, Centauren, Sphinxe u. ſ. w. anatomiſch und phyſiologiſch unmöglich wären, aber doch müſſen ſie uns in ſolcher Harmonie mit ſich erſcheinen, daß bei ihrem Anblick ein Zweifel an ihrer

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Zitationshilfe: Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Königsberg, 1853, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosenkranz_aesthetik_1853/155>, abgerufen am 02.05.2024.