Mehrmals haben wir das Kreuz auf die Erde gestellt und uns den Schweiß getrocknet; gar wenig haben wir mitsammen gesprochen. Nur einmal hat der Rüppel den Mund aufgethan und folgende Worte gesagt: "Das Kreuz ist schwer und herb; mag's nur tragen, bis ich sterb'. Aber thun sie mich begraben, so möcht ich ein grünes Bäumlein haben, das nicht zusammenbricht auf mein Gebein, das aufwächst gegen Himmel im Sonnenschein!"
Da ist es bei so einem Ablasten, daß neben uns eine dunkle Gestalt über den Weg huscht. Sie streckt eine Hand aus, deutet auf einen breiten Stein, und dann ist sie verschwunden. Wir haben beide diese Erscheinung bemerkt, aber wir haben kein Wort gesagt, und erst, als wir auf der Wiese der Karwässer das Kreuz wieder aufrecht auf die Erde stellen, so daß dessen tiefer Schatten ruhesam über dem thauigen Grasgrunde liegt, sagt der Alte: "Wie in den bitteren Leidenstagen der Herr das Kreuz auf den Berg hat getragen, und wie er mit seinen schweren Lasten auf einem Stein hat wollen rasten, da tritt aus dem Haus ein Jud' heraus, und sagt: der Stein gehört mein. Und der Herr schwankt weiter in seiner Pein. -- Und selbiger Jud' kann nicht sterben und ruhen, muß heut' noch wandern von Landen zu Landen, von einem Jahr- tausend zum andern, in glühenden Schuhen." --
Rosegger: Waldschulmeister. 16
Mehrmals haben wir das Kreuz auf die Erde geſtellt und uns den Schweiß getrocknet; gar wenig haben wir mitſammen geſprochen. Nur einmal hat der Rüppel den Mund aufgethan und folgende Worte geſagt: „Das Kreuz iſt ſchwer und herb; mag’s nur tragen, bis ich ſterb’. Aber thun ſie mich begraben, ſo möcht ich ein grünes Bäumlein haben, das nicht zuſammenbricht auf mein Gebein, das aufwächſt gegen Himmel im Sonnenſchein!“
Da iſt es bei ſo einem Ablaſten, daß neben uns eine dunkle Geſtalt über den Weg huſcht. Sie ſtreckt eine Hand aus, deutet auf einen breiten Stein, und dann iſt ſie verſchwunden. Wir haben beide dieſe Erſcheinung bemerkt, aber wir haben kein Wort geſagt, und erſt, als wir auf der Wieſe der Karwäſſer das Kreuz wieder aufrecht auf die Erde ſtellen, ſo daß deſſen tiefer Schatten ruheſam über dem thauigen Grasgrunde liegt, ſagt der Alte: „Wie in den bitteren Leidenstagen der Herr das Kreuz auf den Berg hat getragen, und wie er mit ſeinen ſchweren Laſten auf einem Stein hat wollen raſten, da tritt aus dem Haus ein Jud’ heraus, und ſagt: der Stein gehört mein. Und der Herr ſchwankt weiter in ſeiner Pein. — Und ſelbiger Jud’ kann nicht ſterben und ruhen, muß heut’ noch wandern von Landen zu Landen, von einem Jahr- tauſend zum andern, in glühenden Schuhen.“ —
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 16
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Mehrmals haben wir das Kreuz auf die Erde
geſtellt und uns den Schweiß getrocknet; gar wenig
haben wir mitſammen geſprochen. Nur einmal hat
der Rüppel den Mund aufgethan und folgende
Worte geſagt: „Das Kreuz iſt ſchwer und herb;
mag’s nur tragen, bis ich ſterb’. Aber thun ſie mich
begraben, ſo möcht ich ein grünes Bäumlein haben,
das nicht zuſammenbricht auf mein Gebein, das
aufwächſt gegen Himmel im Sonnenſchein!“
Da iſt es bei ſo einem Ablaſten, daß neben
uns eine dunkle Geſtalt über den Weg huſcht. Sie
ſtreckt eine Hand aus, deutet auf einen breiten
Stein, und dann iſt ſie verſchwunden. Wir haben
beide dieſe Erſcheinung bemerkt, aber wir haben
kein Wort geſagt, und erſt, als wir auf der Wieſe
der Karwäſſer das Kreuz wieder aufrecht auf die
Erde ſtellen, ſo daß deſſen tiefer Schatten ruheſam
über dem thauigen Grasgrunde liegt, ſagt der Alte:
„Wie in den bitteren Leidenstagen der Herr das
Kreuz auf den Berg hat getragen, und wie er mit
ſeinen ſchweren Laſten auf einem Stein hat wollen
raſten, da tritt aus dem Haus ein Jud’ heraus,
und ſagt: der Stein gehört mein. Und der Herr
ſchwankt weiter in ſeiner Pein. — Und ſelbiger
Jud’ kann nicht ſterben und ruhen, muß heut’ noch
wandern von Landen zu Landen, von einem Jahr-
tauſend zum andern, in glühenden Schuhen.“ —
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 16
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 241. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/251>, abgerufen am 23.11.2024.
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