Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Moses die Gesetztafeln geholt, als wahres Bild
Gottes. Erst als die Israeliten aus ihrem eigenen
Geschmeide und mit eigenen Händen ein Bild ge-
formt, ist ein Götzenbild daraus geworden.

Als wir auf den Fels gestiegen, um den Kreuz-
pfahl abzulösen, hat der Rüppel sein Gesicht bedeckt
mit beiden Händen. "Wir brechen den Altar im
Felsenkar!" ruft er in Erregung, "bei wem soll
nun im Sturme beten der Baum und das verfolgte
Reh am Waldessaum?"

Mir selbst haben die Hände gezittert, als wir
das Kreuz ausheben und auf unsere Schultern
nehmen. Ich habe es so getragen, daß der Quer-
balken an meinem Nacken gelegen, wie ein Joch;
der Rüppel hat den Stamm nachgeschleppt.

Und so gehen wir mit der Last hin zwischen
den Klötzen und zwischen den einzelnen Baumrunen.
Als wir zu dem Hange kommen, da bricht die
Abenddämmer an.

Die ganze Nacht sind wir mit dem Kreuze
gegangen her durch die Waldungen. In den Schluch-
ten und Engpässen ist es ganz grauenhaft finster
gewesen und an manch alten Stamm hat unser
Pfahl gestoßen. Wo der Weg über Höhen geht, da
rieselt durch das Geäste das Mondlicht, und wir
schreiten hin über die milden weißen Tafeln und
Herzen, die auf dem Boden liegen.


Moſes die Geſetztafeln geholt, als wahres Bild
Gottes. Erſt als die Iſraeliten aus ihrem eigenen
Geſchmeide und mit eigenen Händen ein Bild ge-
formt, iſt ein Götzenbild daraus geworden.

Als wir auf den Fels geſtiegen, um den Kreuz-
pfahl abzulöſen, hat der Rüppel ſein Geſicht bedeckt
mit beiden Händen. „Wir brechen den Altar im
Felſenkar!“ ruft er in Erregung, „bei wem ſoll
nun im Sturme beten der Baum und das verfolgte
Reh am Waldesſaum?“

Mir ſelbſt haben die Hände gezittert, als wir
das Kreuz ausheben und auf unſere Schultern
nehmen. Ich habe es ſo getragen, daß der Quer-
balken an meinem Nacken gelegen, wie ein Joch;
der Rüppel hat den Stamm nachgeſchleppt.

Und ſo gehen wir mit der Laſt hin zwiſchen
den Klötzen und zwiſchen den einzelnen Baumrunen.
Als wir zu dem Hange kommen, da bricht die
Abenddämmer an.

Die ganze Nacht ſind wir mit dem Kreuze
gegangen her durch die Waldungen. In den Schluch-
ten und Engpäſſen iſt es ganz grauenhaft finſter
geweſen und an manch alten Stamm hat unſer
Pfahl geſtoßen. Wo der Weg über Höhen geht, da
rieſelt durch das Geäſte das Mondlicht, und wir
ſchreiten hin über die milden weißen Tafeln und
Herzen, die auf dem Boden liegen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0250" n="240"/>
Mo&#x017F;es die Ge&#x017F;etztafeln geholt, als wahres Bild<lb/>
Gottes. Er&#x017F;t als die I&#x017F;raeliten aus ihrem eigenen<lb/>
Ge&#x017F;chmeide und mit eigenen Händen ein Bild ge-<lb/>
formt, i&#x017F;t ein Götzenbild daraus geworden.</p><lb/>
          <p>Als wir auf den Fels ge&#x017F;tiegen, um den Kreuz-<lb/>
pfahl abzulö&#x017F;en, hat der Rüppel &#x017F;ein Ge&#x017F;icht bedeckt<lb/>
mit beiden Händen. &#x201E;Wir brechen den Altar im<lb/>
Fel&#x017F;enkar!&#x201C; ruft er in Erregung, &#x201E;bei wem &#x017F;oll<lb/>
nun im Sturme beten der Baum und das verfolgte<lb/>
Reh am Waldes&#x017F;aum?&#x201C;</p><lb/>
          <p>Mir &#x017F;elb&#x017F;t haben die Hände gezittert, als wir<lb/>
das Kreuz ausheben und auf un&#x017F;ere Schultern<lb/>
nehmen. Ich habe es &#x017F;o getragen, daß der Quer-<lb/>
balken an meinem Nacken gelegen, wie ein Joch;<lb/>
der Rüppel hat den Stamm nachge&#x017F;chleppt.</p><lb/>
          <p>Und &#x017F;o gehen wir mit der La&#x017F;t hin zwi&#x017F;chen<lb/>
den Klötzen und zwi&#x017F;chen den einzelnen Baumrunen.<lb/>
Als wir zu dem Hange kommen, da bricht die<lb/>
Abenddämmer an.</p><lb/>
          <p>Die ganze Nacht &#x017F;ind wir mit dem Kreuze<lb/>
gegangen her durch die Waldungen. In den Schluch-<lb/>
ten und Engpä&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t es ganz grauenhaft fin&#x017F;ter<lb/>
gewe&#x017F;en und an manch alten Stamm hat un&#x017F;er<lb/>
Pfahl ge&#x017F;toßen. Wo der Weg über Höhen geht, da<lb/>
rie&#x017F;elt durch das Geä&#x017F;te das Mondlicht, und wir<lb/>
&#x017F;chreiten hin über die milden weißen Tafeln und<lb/>
Herzen, die auf dem Boden liegen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[240/0250] Moſes die Geſetztafeln geholt, als wahres Bild Gottes. Erſt als die Iſraeliten aus ihrem eigenen Geſchmeide und mit eigenen Händen ein Bild ge- formt, iſt ein Götzenbild daraus geworden. Als wir auf den Fels geſtiegen, um den Kreuz- pfahl abzulöſen, hat der Rüppel ſein Geſicht bedeckt mit beiden Händen. „Wir brechen den Altar im Felſenkar!“ ruft er in Erregung, „bei wem ſoll nun im Sturme beten der Baum und das verfolgte Reh am Waldesſaum?“ Mir ſelbſt haben die Hände gezittert, als wir das Kreuz ausheben und auf unſere Schultern nehmen. Ich habe es ſo getragen, daß der Quer- balken an meinem Nacken gelegen, wie ein Joch; der Rüppel hat den Stamm nachgeſchleppt. Und ſo gehen wir mit der Laſt hin zwiſchen den Klötzen und zwiſchen den einzelnen Baumrunen. Als wir zu dem Hange kommen, da bricht die Abenddämmer an. Die ganze Nacht ſind wir mit dem Kreuze gegangen her durch die Waldungen. In den Schluch- ten und Engpäſſen iſt es ganz grauenhaft finſter geweſen und an manch alten Stamm hat unſer Pfahl geſtoßen. Wo der Weg über Höhen geht, da rieſelt durch das Geäſte das Mondlicht, und wir ſchreiten hin über die milden weißen Tafeln und Herzen, die auf dem Boden liegen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/250
Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/250>, abgerufen am 08.05.2024.