Tag auf den Augenlidern, die der heutige schon wieder wach begehrt.
Im Walde ist bereits das zitternde, rieselnde Erlösen aus tiefer Ruhe. Wie ist eines Genesenen erster Ausgang so eigen! Man meint, der ganze Erdboden schaukelt mit Einem -- schaukelt sein wiedergebornes Kind in den Armen. O du heiliger Maimorgen, gebadet in Thau und Wohlduft, durch- zittert und durchklungen von ewigen Gottesgedanken! -- Wie gedenke ich Dein und deines Märchen- zaubers, der sich zu dieser Stunde von der Glocke des Himmels und von den Kronen des Waldes niedergesenkt hat in meine Seele!
Und dennoch habe ich zur selbigen Stunde ein seltsam Weh empfunden. -- Mir ist die Jugend gegeben und ich lebe sie nicht. Was ist mein Zweck? Was bedeute ich? -- Kurz vor diesen Tagen bin ich seit Ewigkeit her ein Nichts gewesen; kurz nach diesen Tagen werde ich ein Nichts sein in Ewigkeit hin. Was soll ich thun? Warum bin ich an dieser kleinen Stelle und zu dieser kurzen Zeit mir meiner bewußt worden? Warum bin ich erwacht? Was muß ich thun? --
Da habe ich mir's von Neuem gelobt, zu arbeiten nach allen meinen Kräften, und auch zu beten, daß mir so schwere, herzverbrennende Ge- danken nicht mehr kommen mögen.
Tag auf den Augenlidern, die der heutige ſchon wieder wach begehrt.
Im Walde iſt bereits das zitternde, rieſelnde Erlöſen aus tiefer Ruhe. Wie iſt eines Geneſenen erſter Ausgang ſo eigen! Man meint, der ganze Erdboden ſchaukelt mit Einem — ſchaukelt ſein wiedergebornes Kind in den Armen. O du heiliger Maimorgen, gebadet in Thau und Wohlduft, durch- zittert und durchklungen von ewigen Gottesgedanken! — Wie gedenke ich Dein und deines Märchen- zaubers, der ſich zu dieſer Stunde von der Glocke des Himmels und von den Kronen des Waldes niedergeſenkt hat in meine Seele!
Und dennoch habe ich zur ſelbigen Stunde ein ſeltſam Weh empfunden. — Mir iſt die Jugend gegeben und ich lebe ſie nicht. Was iſt mein Zweck? Was bedeute ich? — Kurz vor dieſen Tagen bin ich ſeit Ewigkeit her ein Nichts geweſen; kurz nach dieſen Tagen werde ich ein Nichts ſein in Ewigkeit hin. Was ſoll ich thun? Warum bin ich an dieſer kleinen Stelle und zu dieſer kurzen Zeit mir meiner bewußt worden? Warum bin ich erwacht? Was muß ich thun? —
Da habe ich mir’s von Neuem gelobt, zu arbeiten nach allen meinen Kräften, und auch zu beten, daß mir ſo ſchwere, herzverbrennende Ge- danken nicht mehr kommen mögen.
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Tag auf den Augenlidern, die der heutige ſchon
wieder wach begehrt.
Im Walde iſt bereits das zitternde, rieſelnde
Erlöſen aus tiefer Ruhe. Wie iſt eines Geneſenen
erſter Ausgang ſo eigen! Man meint, der ganze
Erdboden ſchaukelt mit Einem — ſchaukelt ſein
wiedergebornes Kind in den Armen. O du heiliger
Maimorgen, gebadet in Thau und Wohlduft, durch-
zittert und durchklungen von ewigen Gottesgedanken!
— Wie gedenke ich Dein und deines Märchen-
zaubers, der ſich zu dieſer Stunde von der Glocke
des Himmels und von den Kronen des Waldes
niedergeſenkt hat in meine Seele!
Und dennoch habe ich zur ſelbigen Stunde
ein ſeltſam Weh empfunden. — Mir iſt die Jugend
gegeben und ich lebe ſie nicht. Was iſt mein Zweck?
Was bedeute ich? — Kurz vor dieſen Tagen bin
ich ſeit Ewigkeit her ein Nichts geweſen; kurz nach
dieſen Tagen werde ich ein Nichts ſein in Ewigkeit
hin. Was ſoll ich thun? Warum bin ich an dieſer
kleinen Stelle und zu dieſer kurzen Zeit mir meiner
bewußt worden? Warum bin ich erwacht? Was
muß ich thun? —
Da habe ich mir’s von Neuem gelobt, zu
arbeiten nach allen meinen Kräften, und auch zu
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/206>, abgerufen am 08.05.2024.
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