Nicht auf Umwegen wollen wir schleichen; eine gerade Straße hauen wir durch das Urge- stämme der Wildniß.
Ich habe aus dem Buche den Leuten einige- male Lieder vorgelesen; den Mädchen das "Heiden- röslein" und den Burschen das "Christel" gelehrt. Gleich haben sie -- ich weiß gar nicht, woher -- eine Weise dazu, und jetzt werden die Lieder im Walde schon vielfach gesungen.
Und so ist nun der Herbst gekommen. Der Himmel ist, wenn die Morgennebel in den Thälern sich lösen, hell und rein und alle Wolken sind auf- gesogen. Die Nadelwälder sind dunkelbraun, die Laubhölzer sind geld oder roth, und auf der Thal- wiese grünt es frisch, oder es liegt auf derselben das matte Silber des Reifes. In diesen Wäldern ist der Herbst buntfarbiger und fast lieblicher, als der Lenz. Der Frühling ist ein übermüthiges Glitzern und Schillern, Singen und Jauchzen aller- wege; der Nachsommer hingegen ist, wie ein stiller, feierlicher Sonntag. Da horcht und gehorcht nichts mehr der Erde; da lauscht Alles ahnungsvoll dem Himmel und der Athem Gottes säuselt stimmungs- volle Lieder durch die gold'nen Saiten der milden Sonne.
Rosegger: Waldschulmeister. 10
Nicht auf Umwegen wollen wir ſchleichen; eine gerade Straße hauen wir durch das Urge- ſtämme der Wildniß.
Ich habe aus dem Buche den Leuten einige- male Lieder vorgeleſen; den Mädchen das „Heiden- röslein“ und den Burſchen das „Chriſtel“ gelehrt. Gleich haben ſie — ich weiß gar nicht, woher — eine Weiſe dazu, und jetzt werden die Lieder im Walde ſchon vielfach geſungen.
Und ſo iſt nun der Herbſt gekommen. Der Himmel iſt, wenn die Morgennebel in den Thälern ſich löſen, hell und rein und alle Wolken ſind auf- geſogen. Die Nadelwälder ſind dunkelbraun, die Laubhölzer ſind geld oder roth, und auf der Thal- wieſe grünt es friſch, oder es liegt auf derſelben das matte Silber des Reifes. In dieſen Wäldern iſt der Herbſt buntfarbiger und faſt lieblicher, als der Lenz. Der Frühling iſt ein übermüthiges Glitzern und Schillern, Singen und Jauchzen aller- wege; der Nachſommer hingegen iſt, wie ein ſtiller, feierlicher Sonntag. Da horcht und gehorcht nichts mehr der Erde; da lauſcht Alles ahnungsvoll dem Himmel und der Athem Gottes ſäuſelt ſtimmungs- volle Lieder durch die gold’nen Saiten der milden Sonne.
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 10
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Nicht auf Umwegen wollen wir ſchleichen;
eine gerade Straße hauen wir durch das Urge-
ſtämme der Wildniß.
Ich habe aus dem Buche den Leuten einige-
male Lieder vorgeleſen; den Mädchen das „Heiden-
röslein“ und den Burſchen das „Chriſtel“ gelehrt.
Gleich haben ſie — ich weiß gar nicht, woher —
eine Weiſe dazu, und jetzt werden die Lieder im
Walde ſchon vielfach geſungen.
Und ſo iſt nun der Herbſt gekommen. Der
Himmel iſt, wenn die Morgennebel in den Thälern
ſich löſen, hell und rein und alle Wolken ſind auf-
geſogen. Die Nadelwälder ſind dunkelbraun, die
Laubhölzer ſind geld oder roth, und auf der Thal-
wieſe grünt es friſch, oder es liegt auf derſelben
das matte Silber des Reifes. In dieſen Wäldern
iſt der Herbſt buntfarbiger und faſt lieblicher, als
der Lenz. Der Frühling iſt ein übermüthiges
Glitzern und Schillern, Singen und Jauchzen aller-
wege; der Nachſommer hingegen iſt, wie ein ſtiller,
feierlicher Sonntag. Da horcht und gehorcht nichts
mehr der Erde; da lauſcht Alles ahnungsvoll dem
Himmel und der Athem Gottes ſäuſelt ſtimmungs-
volle Lieder durch die gold’nen Saiten der milden
Sonne.
Roſegger: Waldſchulmeiſter. 10
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Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/155>, abgerufen am 04.05.2024.
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