Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875.

Bild:
<< vorherige Seite

Und hoch oben in der Buchenkrone löset sich
ein müdes Blättchen los, sinkt nieder von Ast zu
Ast und tänzelt an unendlich zarten schillernden
Spinnenfäden vorüber und hernieder zu mir auf
den kühlen schattigen Grund. -- Die Menschen in
der Ferne, mit denen ich vormaleinst gelebt, was
werden sie treiben? Das außerordentliche Mädchen
blüht immer -- immer -- auch im Herbst; --
im Sachsenland werden die dürren Blätter wehen
über Gräbern . . . .

Einsamkeit kann einsam Leid nicht bannen.
Ich muß mich nach Dingen umsehen, die mich zer-
streuen und erheben und die mich nicht einseitig
werden lassen in meiner Umgebung.

Ich habe begonnen, Pflanzenkunde zu treiben;
ich habe mit meinen Augen aus Büchern heraus-
gelesen, wie die Eriken leben und die Heiderosen
und andere; und ich habe mit meinen Augen die-
selben Pflanzen betrachtet, stunden- und stunden-
lang. Und ich habe keine Beziehung gefunden
zwischen dem todten Blatt im Buche und dem
lebendigen im Walde. Da sagt das Buch von der
Genziane, diese Pflanze gehöre in die fünfte Klasse,
unter dieser in die erste Ordnung, komme in den
Alpen vor, sei blaublüthig, diene zur Medizin. Es
spricht von einer Anzahl Staubgefäßen, von Stem-
pel- und Fruchtknoten u. s. w. Und das ist der

Und hoch oben in der Buchenkrone löſet ſich
ein müdes Blättchen los, ſinkt nieder von Aſt zu
Aſt und tänzelt an unendlich zarten ſchillernden
Spinnenfäden vorüber und hernieder zu mir auf
den kühlen ſchattigen Grund. — Die Menſchen in
der Ferne, mit denen ich vormaleinſt gelebt, was
werden ſie treiben? Das außerordentliche Mädchen
blüht immer — immer — auch im Herbſt; —
im Sachſenland werden die dürren Blätter wehen
über Gräbern . . . .

Einſamkeit kann einſam Leid nicht bannen.
Ich muß mich nach Dingen umſehen, die mich zer-
ſtreuen und erheben und die mich nicht einſeitig
werden laſſen in meiner Umgebung.

Ich habe begonnen, Pflanzenkunde zu treiben;
ich habe mit meinen Augen aus Büchern heraus-
geleſen, wie die Eriken leben und die Heideroſen
und andere; und ich habe mit meinen Augen die-
ſelben Pflanzen betrachtet, ſtunden- und ſtunden-
lang. Und ich habe keine Beziehung gefunden
zwiſchen dem todten Blatt im Buche und dem
lebendigen im Walde. Da ſagt das Buch von der
Genziane, dieſe Pflanze gehöre in die fünfte Klaſſe,
unter dieſer in die erſte Ordnung, komme in den
Alpen vor, ſei blaublüthig, diene zur Medizin. Es
ſpricht von einer Anzahl Staubgefäßen, von Stem-
pel- und Fruchtknoten u. ſ. w. Und das iſt der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0156" n="146"/>
          <p>Und hoch oben in der Buchenkrone lö&#x017F;et &#x017F;ich<lb/>
ein müdes Blättchen los, &#x017F;inkt nieder von A&#x017F;t zu<lb/>
A&#x017F;t und tänzelt an unendlich zarten &#x017F;chillernden<lb/>
Spinnenfäden vorüber und hernieder zu mir auf<lb/>
den kühlen &#x017F;chattigen Grund. &#x2014; Die Men&#x017F;chen in<lb/>
der Ferne, mit denen ich vormalein&#x017F;t gelebt, was<lb/>
werden &#x017F;ie treiben? Das außerordentliche Mädchen<lb/>
blüht immer &#x2014; immer &#x2014; auch im Herb&#x017F;t; &#x2014;<lb/>
im Sach&#x017F;enland werden die dürren Blätter wehen<lb/>
über Gräbern . . . .</p><lb/>
          <p>Ein&#x017F;amkeit kann ein&#x017F;am Leid nicht bannen.<lb/>
Ich muß mich nach Dingen um&#x017F;ehen, die mich zer-<lb/>
&#x017F;treuen und erheben und die mich nicht ein&#x017F;eitig<lb/>
werden la&#x017F;&#x017F;en in meiner Umgebung.</p><lb/>
          <p>Ich habe begonnen, Pflanzenkunde zu treiben;<lb/>
ich habe mit meinen Augen aus Büchern heraus-<lb/>
gele&#x017F;en, wie die Eriken leben und die Heidero&#x017F;en<lb/>
und andere; und ich habe mit meinen Augen die-<lb/>
&#x017F;elben Pflanzen betrachtet, &#x017F;tunden- und &#x017F;tunden-<lb/>
lang. Und ich habe keine Beziehung gefunden<lb/>
zwi&#x017F;chen dem todten Blatt im Buche und dem<lb/>
lebendigen im Walde. Da &#x017F;agt das Buch von der<lb/>
Genziane, die&#x017F;e Pflanze gehöre in die fünfte Kla&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
unter die&#x017F;er in die er&#x017F;te Ordnung, komme in den<lb/>
Alpen vor, &#x017F;ei blaublüthig, diene zur Medizin. Es<lb/>
&#x017F;pricht von einer Anzahl Staubgefäßen, von Stem-<lb/>
pel- und Fruchtknoten u. &#x017F;. w. Und das i&#x017F;t der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0156] Und hoch oben in der Buchenkrone löſet ſich ein müdes Blättchen los, ſinkt nieder von Aſt zu Aſt und tänzelt an unendlich zarten ſchillernden Spinnenfäden vorüber und hernieder zu mir auf den kühlen ſchattigen Grund. — Die Menſchen in der Ferne, mit denen ich vormaleinſt gelebt, was werden ſie treiben? Das außerordentliche Mädchen blüht immer — immer — auch im Herbſt; — im Sachſenland werden die dürren Blätter wehen über Gräbern . . . . Einſamkeit kann einſam Leid nicht bannen. Ich muß mich nach Dingen umſehen, die mich zer- ſtreuen und erheben und die mich nicht einſeitig werden laſſen in meiner Umgebung. Ich habe begonnen, Pflanzenkunde zu treiben; ich habe mit meinen Augen aus Büchern heraus- geleſen, wie die Eriken leben und die Heideroſen und andere; und ich habe mit meinen Augen die- ſelben Pflanzen betrachtet, ſtunden- und ſtunden- lang. Und ich habe keine Beziehung gefunden zwiſchen dem todten Blatt im Buche und dem lebendigen im Walde. Da ſagt das Buch von der Genziane, dieſe Pflanze gehöre in die fünfte Klaſſe, unter dieſer in die erſte Ordnung, komme in den Alpen vor, ſei blaublüthig, diene zur Medizin. Es ſpricht von einer Anzahl Staubgefäßen, von Stem- pel- und Fruchtknoten u. ſ. w. Und das iſt der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/156
Zitationshilfe: Rosegger, Peter: Die Schriften des Waldschulmeisters. Pest, 1875, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rosegger_waldschulmeister_1875/156>, abgerufen am 04.05.2024.