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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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die Stoiker sogut wie schon die Cyniker, kaum noch erziehende
Kraft. Der Einzelne sah sich auf sich selbst und seine eigene
Einsicht zurückgewiesen; nach eigenem Maass und Gesetz musste
er leben. Den Individualismus, der diese Zeit, mehr noch als
alle frühere griechische Cultur, bestimmt, gewinnt auch in
diesem pantheistischen System Boden; in dem "Weisen", der
in völliger Freiheit sich aus sich selber bestimmt 1), allein mit
den ihm Gleichen sich verbunden fühlt 2), erreicht er seinen
Gipfel.

Die Seele aber, die in diesem Einen so Hohes vermochte,
was ihren ungezählten Schwestern nur unvollkommen oder gar
nicht erreichbar war, gewann mehr und mehr das Ansehen,
doch noch etwas anderes zu sein als ein unselbständiger Aus-
fluss der Einen, überall gleichen Gotteskraft. Als ein selb-
ständiges, in eigenem Wesen geschlossenes Göttliches wird sie
vorgestellt, wo sie, ähnlich wie einst bei den Theologen, auch
in stoischen Schriften ein "Dämon" heisst, der in diesem be-
sonderen Menschen wohnende, ihm zugesellte Dämon 3). Und

1) Der sophos ist monos eleutheros; einai gar ten eleutherian exousian auto-
pragias: Laert. 7, 121. Gesetze, Staatsverfassungen sind für ihn nicht
giltig: Cic. Acad. pr. 2, 136.
2) Feinde und Fremde sind einander alle me spoudaioi, politai kai
philoi kai oikeioi oi spoudaioi monon. Zeno en te Politeia bei Laert.
7, 32. 33.
3) o par ekasto daimon, den man in Uebereinstimmung halten müsse
pros ten tou ton olon dioiketou boulesin. Laert. 7, 88 nach Chrysipp.
In der allein erhaltenen späteren stoischen Litteratur begegnet uns dieser
daimon des Einzelnen, sacer intra nos spiritus, vielfach (bei Seneca, Epiktet,
Mark Aurel; s. Bonhöffer Epiktet 83). Es wird da zumeist von ihm so
geredet, dass zwischen ihm und dem Menschen oder seiner Seele, auch
dem egemonikon, ein Unterschied gemacht zu werden scheint. Zeus
parestesen epitropon ekasto ton ekastou daimona kai paredoke phulas-
sein auton auto ktl. (Epiktet. diss. 1, 14, 12). o daimon, on ekasto pro-
staten
kai egemona o Zeus edoken (M. Aurel. 5, 27). anakrinon to daimonion,
Epict. 3, 22, 53 (man kann es, wie Sokrates sein daimonion, befragen als
ein Andres und Gegenüberstehendes). Dieser daimon scheint also nicht
ohne Weiteres mit der "Seele" des Menschen gleichgesetzt werden zu
können, wie der Dämon im Menschen, von dem die Theologen reden.

die Stoiker sogut wie schon die Cyniker, kaum noch erziehende
Kraft. Der Einzelne sah sich auf sich selbst und seine eigene
Einsicht zurückgewiesen; nach eigenem Maass und Gesetz musste
er leben. Den Individualismus, der diese Zeit, mehr noch als
alle frühere griechische Cultur, bestimmt, gewinnt auch in
diesem pantheistischen System Boden; in dem „Weisen“, der
in völliger Freiheit sich aus sich selber bestimmt 1), allein mit
den ihm Gleichen sich verbunden fühlt 2), erreicht er seinen
Gipfel.

Die Seele aber, die in diesem Einen so Hohes vermochte,
was ihren ungezählten Schwestern nur unvollkommen oder gar
nicht erreichbar war, gewann mehr und mehr das Ansehen,
doch noch etwas anderes zu sein als ein unselbständiger Aus-
fluss der Einen, überall gleichen Gotteskraft. Als ein selb-
ständiges, in eigenem Wesen geschlossenes Göttliches wird sie
vorgestellt, wo sie, ähnlich wie einst bei den Theologen, auch
in stoischen Schriften ein „Dämon“ heisst, der in diesem be-
sonderen Menschen wohnende, ihm zugesellte Dämon 3). Und

1) Der σοφός ist μόνος ἐλεύϑερος· εἶναι γὰρ τὴν ἐλευϑερίαν ἐξουσίαν αὐτο-
πραγίας: Laert. 7, 121. Gesetze, Staatsverfassungen sind für ihn nicht
giltig: Cic. Acad. pr. 2, 136.
2) Feinde und Fremde sind einander alle μὴ σπουδαῖοι, πολῖται καὶ
φίλοι καὶ οἰκεῖοι οἱ σπουδαῖοι μόνον. Zeno ἐν τῇ Πολιτείᾳ bei Laert.
7, 32. 33.
3) ὁ παρ̕ ἑκάστῳ δαίμων, den man in Uebereinstimmung halten müsse
πρὸς τὴν τοῦ τῶν ὅλων διοικητοῦ βούλησιν. Laert. 7, 88 nach Chrysipp.
In der allein erhaltenen späteren stoischen Litteratur begegnet uns dieser
δαίμων des Einzelnen, sacer intra nos spiritus, vielfach (bei Seneca, Epiktet,
Mark Aurel; s. Bonhöffer Epiktet 83). Es wird da zumeist von ihm so
geredet, dass zwischen ihm und dem Menschen oder seiner Seele, auch
dem ἡγεμονικόν, ein Unterschied gemacht zu werden scheint. Zeus
παρέστησεν ἐπίτροπον ἑκάστῳ τὸν ἑκάστου δαίμονα καὶ παρέδωκε φυλάσ-
σειν αὐτὸν αὐτῷ κτλ. (Epiktet. diss. 1, 14, 12). ὁ δαίμων, ὃν ἑκάστῳ προ-
στάτην
καὶ ἡγεμόνα ὁ Ζεὺς ἔδωκεν (M. Aurel. 5, 27). ἀνάκρινον τὸ δαιμόνιον,
Epict. 3, 22, 53 (man kann es, wie Sokrates sein δαιμόνιον, befragen als
ein Andres und Gegenüberstehendes). Dieser δαίμων scheint also nicht
ohne Weiteres mit der „Seele“ des Menschen gleichgesetzt werden zu
können, wie der Dämon im Menschen, von dem die Theologen reden.
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[606/0622] die Stoiker sogut wie schon die Cyniker, kaum noch erziehende Kraft. Der Einzelne sah sich auf sich selbst und seine eigene Einsicht zurückgewiesen; nach eigenem Maass und Gesetz musste er leben. Den Individualismus, der diese Zeit, mehr noch als alle frühere griechische Cultur, bestimmt, gewinnt auch in diesem pantheistischen System Boden; in dem „Weisen“, der in völliger Freiheit sich aus sich selber bestimmt 1), allein mit den ihm Gleichen sich verbunden fühlt 2), erreicht er seinen Gipfel. Die Seele aber, die in diesem Einen so Hohes vermochte, was ihren ungezählten Schwestern nur unvollkommen oder gar nicht erreichbar war, gewann mehr und mehr das Ansehen, doch noch etwas anderes zu sein als ein unselbständiger Aus- fluss der Einen, überall gleichen Gotteskraft. Als ein selb- ständiges, in eigenem Wesen geschlossenes Göttliches wird sie vorgestellt, wo sie, ähnlich wie einst bei den Theologen, auch in stoischen Schriften ein „Dämon“ heisst, der in diesem be- sonderen Menschen wohnende, ihm zugesellte Dämon 3). Und 1) Der σοφός ist μόνος ἐλεύϑερος· εἶναι γὰρ τὴν ἐλευϑερίαν ἐξουσίαν αὐτο- πραγίας: Laert. 7, 121. Gesetze, Staatsverfassungen sind für ihn nicht giltig: Cic. Acad. pr. 2, 136. 2) Feinde und Fremde sind einander alle μὴ σπουδαῖοι, πολῖται καὶ φίλοι καὶ οἰκεῖοι οἱ σπουδαῖοι μόνον. Zeno ἐν τῇ Πολιτείᾳ bei Laert. 7, 32. 33. 3) ὁ παρ̕ ἑκάστῳ δαίμων, den man in Uebereinstimmung halten müsse πρὸς τὴν τοῦ τῶν ὅλων διοικητοῦ βούλησιν. Laert. 7, 88 nach Chrysipp. In der allein erhaltenen späteren stoischen Litteratur begegnet uns dieser δαίμων des Einzelnen, sacer intra nos spiritus, vielfach (bei Seneca, Epiktet, Mark Aurel; s. Bonhöffer Epiktet 83). Es wird da zumeist von ihm so geredet, dass zwischen ihm und dem Menschen oder seiner Seele, auch dem ἡγεμονικόν, ein Unterschied gemacht zu werden scheint. Zeus παρέστησεν ἐπίτροπον ἑκάστῳ τὸν ἑκάστου δαίμονα καὶ παρέδωκε φυλάσ- σειν αὐτὸν αὐτῷ κτλ. (Epiktet. diss. 1, 14, 12). ὁ δαίμων, ὃν ἑκάστῳ προ- στάτην καὶ ἡγεμόνα ὁ Ζεὺς ἔδωκεν (M. Aurel. 5, 27). ἀνάκρινον τὸ δαιμόνιον, Epict. 3, 22, 53 (man kann es, wie Sokrates sein δαιμόνιον, befragen als ein Andres und Gegenüberstehendes). Dieser δαίμων scheint also nicht ohne Weiteres mit der „Seele“ des Menschen gleichgesetzt werden zu können, wie der Dämon im Menschen, von dem die Theologen reden.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 606. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/622>, abgerufen am 22.11.2024.