heit in Anspruch 1). Völlig ernst ist es ihm mit der Grund- anschauung von der Seele als einer selbständigen Substanz, die aus dem Raumlosen jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Welt eintritt in diesen Raum und diese Zeitlichkeit, mit dem Leibe nicht in organischem Zusammenhang, sondern nur in äusserlicher Verbindung steht, als immaterielles Geisteswesen inmitten der Flucht und Vergänglichkeit des Sinnlichen sich erhält, gleichwohl eine Trübung und Verdunklung ihres reinen Lichtes in dieser Verbindung erfährt, von der sie aber sich reinigen soll und sich befreien kann 2), bis zu völligem Aus- scheiden aus der Umklammerung des Stofflichen und Wahr- nehmbaren. Er entlehnt das Wesentliche dieser Grundanschau- ungen den Theologen; aber er bringt sie in nahe Beziehung zu seiner eigensten Philosophie, die durch die Ueberzeugung von dem schroffen Gegensatz zwischen Werden und Sein, der Zwiespältigkeit der Welt nach Geist und Materie, die sich auch in dem Verhältniss der Seele zum Leibe und zu dem ganzen Bereiche der Erscheinung ausprägt, völlig bestimmt ist. Die Seele, in der Mitte stehend zwischen dem einheitlichen, unveränderlichen Sein und der schwankenden Vielheit des Körperlichen, hat im Gebiete des Getheilten und Unbeständigen, in das sie zeitweilig gebannt ist, allein die Fähigkeit, die "Ideen" ungetrübt und rein für sich in ihrem Bewusstsein wieder abzuspiegeln und darzustellen. Sie allein, ohne alle Mitwirkung der sinnlichen Wahrnehmung und darauf erbauten Vorstellung, kann der "Jagd nach dem Seienden" 3) nachgehen. Der Leib, mit dem sie verkoppelt ist, ist ihr dabei nur ein Hinderniss, und ein mächtiges. Mit seinen Trieben, so fremd sie ihr gegenüberstehen, hat sie hart zu ringen. Wie in der
1) So spricht er es bei eigentlichen Mythenerzählungen mehrfach aus. Vgl. auch Phaedon 85 C/D.
2)Phaedr. 250 C (ostreon); Rep. 10, 611 C/D (Glaukos).
3) ten tou ontos theran Phaedon 66 C (otan aute kath auten prag- mateuetai e psukhe ta onta. Theaetet. 187 A. aute te psukhe theateon auta ta pragmata, Phaed. 66 D).
heit in Anspruch 1). Völlig ernst ist es ihm mit der Grund- anschauung von der Seele als einer selbständigen Substanz, die aus dem Raumlosen jenseits der sinnlich wahrnehmbaren Welt eintritt in diesen Raum und diese Zeitlichkeit, mit dem Leibe nicht in organischem Zusammenhang, sondern nur in äusserlicher Verbindung steht, als immaterielles Geisteswesen inmitten der Flucht und Vergänglichkeit des Sinnlichen sich erhält, gleichwohl eine Trübung und Verdunklung ihres reinen Lichtes in dieser Verbindung erfährt, von der sie aber sich reinigen soll und sich befreien kann 2), bis zu völligem Aus- scheiden aus der Umklammerung des Stofflichen und Wahr- nehmbaren. Er entlehnt das Wesentliche dieser Grundanschau- ungen den Theologen; aber er bringt sie in nahe Beziehung zu seiner eigensten Philosophie, die durch die Ueberzeugung von dem schroffen Gegensatz zwischen Werden und Sein, der Zwiespältigkeit der Welt nach Geist und Materie, die sich auch in dem Verhältniss der Seele zum Leibe und zu dem ganzen Bereiche der Erscheinung ausprägt, völlig bestimmt ist. Die Seele, in der Mitte stehend zwischen dem einheitlichen, unveränderlichen Sein und der schwankenden Vielheit des Körperlichen, hat im Gebiete des Getheilten und Unbeständigen, in das sie zeitweilig gebannt ist, allein die Fähigkeit, die „Ideen“ ungetrübt und rein für sich in ihrem Bewusstsein wieder abzuspiegeln und darzustellen. Sie allein, ohne alle Mitwirkung der sinnlichen Wahrnehmung und darauf erbauten Vorstellung, kann der „Jagd nach dem Seienden“ 3) nachgehen. Der Leib, mit dem sie verkoppelt ist, ist ihr dabei nur ein Hinderniss, und ein mächtiges. Mit seinen Trieben, so fremd sie ihr gegenüberstehen, hat sie hart zu ringen. Wie in der
1) So spricht er es bei eigentlichen Mythenerzählungen mehrfach aus. Vgl. auch Phaedon 85 C/D.
2)Phaedr. 250 C (ὄστρεον); Rep. 10, 611 C/D (Glaukos).
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heit in Anspruch 1). Völlig ernst ist es ihm mit der Grund-
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die aus dem Raumlosen jenseits der sinnlich wahrnehmbaren
Welt eintritt in diesen Raum und diese Zeitlichkeit, mit dem
Leibe nicht in organischem Zusammenhang, sondern nur in
äusserlicher Verbindung steht, als immaterielles Geisteswesen
inmitten der Flucht und Vergänglichkeit des Sinnlichen sich
erhält, gleichwohl eine Trübung und Verdunklung ihres reinen
Lichtes in dieser Verbindung erfährt, von der sie aber sich
reinigen soll und sich befreien kann 2), bis zu völligem Aus-
scheiden aus der Umklammerung des Stofflichen und Wahr-
nehmbaren. Er entlehnt das Wesentliche dieser Grundanschau-
ungen den Theologen; aber er bringt sie in nahe Beziehung
zu seiner eigensten Philosophie, die durch die Ueberzeugung
von dem schroffen Gegensatz zwischen Werden und Sein, der
Zwiespältigkeit der Welt nach Geist und Materie, die sich
auch in dem Verhältniss der Seele zum Leibe und zu dem
ganzen Bereiche der Erscheinung ausprägt, völlig bestimmt ist.
Die Seele, in der Mitte stehend zwischen dem einheitlichen,
unveränderlichen Sein und der schwankenden Vielheit des
Körperlichen, hat im Gebiete des Getheilten und Unbeständigen,
in das sie zeitweilig gebannt ist, allein die Fähigkeit, die
„Ideen“ ungetrübt und rein für sich in ihrem Bewusstsein
wieder abzuspiegeln und darzustellen. Sie allein, ohne alle
Mitwirkung der sinnlichen Wahrnehmung und darauf erbauten
Vorstellung, kann der „Jagd nach dem Seienden“ 3) nachgehen.
Der Leib, mit dem sie verkoppelt ist, ist ihr dabei nur ein
Hinderniss, und ein mächtiges. Mit seinen Trieben, so fremd
sie ihr gegenüberstehen, hat sie hart zu ringen. Wie in der
1) So spricht er es bei eigentlichen Mythenerzählungen mehrfach
aus. Vgl. auch Phaedon 85 C/D.
2) Phaedr. 250 C (ὄστρεον); Rep. 10, 611 C/D (Glaukos).
3) τὴν τοῦ ὄντος ϑήραν Phaedon 66 C (ὅταν αὐτὴ καϑ̕ αὑτὴν πραγ-
ματεύηται ἡ ψυχὴ τὰ ὄντα. Theaetet. 187 A. αὐτῇ τῇ ψυχῇ ϑεατέον αὐτὰ
τὰ πράγματα, Phaed. 66 D).
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 572. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/588>, abgerufen am 25.11.2024.
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