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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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mit der Ideenphilosophie, in den Kreis seiner Gedanken auf-
genommen hatte, unverbrüchlich und in ihrem eigentlichsten
Sinne festgehalten hat. Der Weg, auf dem er zu ihr gelangt
ist, ist nicht zu erkennen aus den "Beweisen", mit denen er
im "Phaedon" die bei ihm selbst damals bereits feststehende
Annahme der Unsterblichkeit der Seele zu stützen sucht.
Wenn diese Beweise das, was sie beweisen sollen (und was als
eine gegebene Thatsache nicht nachweisbar, als eine nothwendig
zu denkende Wahrheit niemals erweisbar ist) nicht wirklich
beweisen, so können sie es auch nicht sein, die den Philo-
sophen selbst zu seiner Ueberzeugung geführt haben. Er hat
in Wahrheit diesen Glaubenssatz entlehnt von den Glaubens-
lehrern, die ihn fertig darboten. Er selbst verhehlt das kaum.
Für die Hauptzüge der Geschichte der Seele, wie er sie aus-
führt, beruft er sich, fast entschuldigend und wie zum Ersatz
für eine philosophische Begründung, vielfach auf die Autorität
der Theologen und Mysterienpriester 1). Er selbst wird völlig
und unverstellt zum theologischen Dichter, wo er, nach dem
Vorbild der erbaulichen Dichtung, die Erlebnisse der Seele
zwischen zwei Stationen der irdischen Wallfahrt ausmalt, oder
die Stufengänge irdischer Lebensläufe beschreibt 2), die bis zum
Thier die Seele hinunterführen.

Für solche sagenhafte Ausführungen des Unsagbaren
nimmt der Philosoph selbst keine andere als symbolische Wahr-

1) Z. B. Berufung auf teletai, palaioi logoi en aporretois legomenoi,
speciell auf Orphische Lehre, wo er redet von der innerlichen Verschieden-
heit der Seele von allem Leiblichen; ihrem "Sterben" im irdischen Leben,
Einschliessung der Seele in das soma als ihr sema, zur Strafe ihrer Ver-
fehlungen; Strafen und Läuterungen nach dem Tode im Aides, Seelen-
wanderungen, Unvergänglichkeit der Seele, Wohnen der Reinen bei den
Göttern. (Phaedon 60 B/C; 63 C; 69 C; 70 C; 81 A; 107 D ff.; Gorg.
493 A; Cratyl. 400 B/C; Meno 81 A ff.; Leg. 9, 870 D/E; 872 E). Daher
auch die Vorliebe für Vergleichung der höchsten philosophischen Thätig-
keit oder der vorzeitlichen Ideenschau mit den epopteiai der Mysterien:
Phaedr. 250 B/C u. ö.: Lobeck Agl. 128.
2) Neun (in altgeheiligter Zahl) Stufen vom philosophos abwärts bis
zum turannos: Phaedr. 248 D/E.

mit der Ideenphilosophie, in den Kreis seiner Gedanken auf-
genommen hatte, unverbrüchlich und in ihrem eigentlichsten
Sinne festgehalten hat. Der Weg, auf dem er zu ihr gelangt
ist, ist nicht zu erkennen aus den „Beweisen“, mit denen er
im „Phaedon“ die bei ihm selbst damals bereits feststehende
Annahme der Unsterblichkeit der Seele zu stützen sucht.
Wenn diese Beweise das, was sie beweisen sollen (und was als
eine gegebene Thatsache nicht nachweisbar, als eine nothwendig
zu denkende Wahrheit niemals erweisbar ist) nicht wirklich
beweisen, so können sie es auch nicht sein, die den Philo-
sophen selbst zu seiner Ueberzeugung geführt haben. Er hat
in Wahrheit diesen Glaubenssatz entlehnt von den Glaubens-
lehrern, die ihn fertig darboten. Er selbst verhehlt das kaum.
Für die Hauptzüge der Geschichte der Seele, wie er sie aus-
führt, beruft er sich, fast entschuldigend und wie zum Ersatz
für eine philosophische Begründung, vielfach auf die Autorität
der Theologen und Mysterienpriester 1). Er selbst wird völlig
und unverstellt zum theologischen Dichter, wo er, nach dem
Vorbild der erbaulichen Dichtung, die Erlebnisse der Seele
zwischen zwei Stationen der irdischen Wallfahrt ausmalt, oder
die Stufengänge irdischer Lebensläufe beschreibt 2), die bis zum
Thier die Seele hinunterführen.

Für solche sagenhafte Ausführungen des Unsagbaren
nimmt der Philosoph selbst keine andere als symbolische Wahr-

1) Z. B. Berufung auf τελεταί, παλαιοὶ λόγοι ἐν ἀπορρήτοις λεγόμενοι,
speciell auf Orphische Lehre, wo er redet von der innerlichen Verschieden-
heit der Seele von allem Leiblichen; ihrem „Sterben“ im irdischen Leben,
Einschliessung der Seele in das σῶμα als ihr σῆμα, zur Strafe ihrer Ver-
fehlungen; Strafen und Läuterungen nach dem Tode im Ἅιδης, Seelen-
wanderungen, Unvergänglichkeit der Seele, Wohnen der Reinen bei den
Göttern. (Phaedon 60 B/C; 63 C; 69 C; 70 C; 81 A; 107 D ff.; Gorg.
493 A; Cratyl. 400 B/C; Meno 81 A ff.; Leg. 9, 870 D/E; 872 E). Daher
auch die Vorliebe für Vergleichung der höchsten philosophischen Thätig-
keit oder der vorzeitlichen Ideenschau mit den ἐποπτεῖαι der Mysterien:
Phaedr. 250 B/C u. ö.: Lobeck Agl. 128.
2) Neun (in altgeheiligter Zahl) Stufen vom φιλόσοφος abwärts bis
zum τύραννος: Phaedr. 248 D/E.
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[571/0587] mit der Ideenphilosophie, in den Kreis seiner Gedanken auf- genommen hatte, unverbrüchlich und in ihrem eigentlichsten Sinne festgehalten hat. Der Weg, auf dem er zu ihr gelangt ist, ist nicht zu erkennen aus den „Beweisen“, mit denen er im „Phaedon“ die bei ihm selbst damals bereits feststehende Annahme der Unsterblichkeit der Seele zu stützen sucht. Wenn diese Beweise das, was sie beweisen sollen (und was als eine gegebene Thatsache nicht nachweisbar, als eine nothwendig zu denkende Wahrheit niemals erweisbar ist) nicht wirklich beweisen, so können sie es auch nicht sein, die den Philo- sophen selbst zu seiner Ueberzeugung geführt haben. Er hat in Wahrheit diesen Glaubenssatz entlehnt von den Glaubens- lehrern, die ihn fertig darboten. Er selbst verhehlt das kaum. Für die Hauptzüge der Geschichte der Seele, wie er sie aus- führt, beruft er sich, fast entschuldigend und wie zum Ersatz für eine philosophische Begründung, vielfach auf die Autorität der Theologen und Mysterienpriester 1). Er selbst wird völlig und unverstellt zum theologischen Dichter, wo er, nach dem Vorbild der erbaulichen Dichtung, die Erlebnisse der Seele zwischen zwei Stationen der irdischen Wallfahrt ausmalt, oder die Stufengänge irdischer Lebensläufe beschreibt 2), die bis zum Thier die Seele hinunterführen. Für solche sagenhafte Ausführungen des Unsagbaren nimmt der Philosoph selbst keine andere als symbolische Wahr- 1) Z. B. Berufung auf τελεταί, παλαιοὶ λόγοι ἐν ἀπορρήτοις λεγόμενοι, speciell auf Orphische Lehre, wo er redet von der innerlichen Verschieden- heit der Seele von allem Leiblichen; ihrem „Sterben“ im irdischen Leben, Einschliessung der Seele in das σῶμα als ihr σῆμα, zur Strafe ihrer Ver- fehlungen; Strafen und Läuterungen nach dem Tode im Ἅιδης, Seelen- wanderungen, Unvergänglichkeit der Seele, Wohnen der Reinen bei den Göttern. (Phaedon 60 B/C; 63 C; 69 C; 70 C; 81 A; 107 D ff.; Gorg. 493 A; Cratyl. 400 B/C; Meno 81 A ff.; Leg. 9, 870 D/E; 872 E). Daher auch die Vorliebe für Vergleichung der höchsten philosophischen Thätig- keit oder der vorzeitlichen Ideenschau mit den ἐποπτεῖαι der Mysterien: Phaedr. 250 B/C u. ö.: Lobeck Agl. 128. 2) Neun (in altgeheiligter Zahl) Stufen vom φιλόσοφος abwärts bis zum τύραννος: Phaedr. 248 D/E.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 571. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/587>, abgerufen am 25.11.2024.