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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur
willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich
und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die
Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der
That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des
seelisch Kranken vorhanden sind, wird im "Orestes" geradezu
ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen
und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht
immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden
Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten,
den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das
"Thierische und Bluttriefende" dieser alten Glaubensbilder er-
regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder
Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht
der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm
ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an
diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm
fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte-
risch zu gestalten. -- So wird denn auch die Verpflichtung
der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid-
men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge-
fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese:
dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab

1) Or. 248 f. Nicht viel anders auch Iph. Taur. 288--291.
2) to theriodes touto kai miaiphonon -- Or. 517. Orest hätte, statt
selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen:
Or. 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen
können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: Or. 280 ff. Einzig
Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: El. 969 ff.;
1297 f.; Or. 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl
Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: El. 1177 ff. (dennoch ist
viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig
dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut-
rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi-
stischen Kälte mit der hierüber in dem agon zwischen Tyndareos und
Orest verhandelt wird: Or. 485--597, an der Spitzfindigkeit in der Rede
des Orest, Or. 924 ff.

diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur
willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich
und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die
Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der
That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des
seelisch Kranken vorhanden sind, wird im „Orestes“ geradezu
ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen
und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht
immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden
Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten,
den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das
„Thierische und Bluttriefende“ dieser alten Glaubensbilder er-
regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder
Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht
der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm
ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an
diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm
fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte-
risch zu gestalten. — So wird denn auch die Verpflichtung
der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid-
men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge-
fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese:
dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab

1) Or. 248 f. Nicht viel anders auch Iph. Taur. 288—291.
2) τὸ ϑηριῶδες τοῦτο καὶ μιαιφόνον — Or. 517. Orest hätte, statt
selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen:
Or. 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen
können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: Or. 280 ff. Einzig
Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: El. 969 ff.;
1297 f.; Or. 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl
Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: El. 1177 ff. (dennoch ist
viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig
dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut-
rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi-
stischen Kälte mit der hierüber in dem ἀγών zwischen Tyndareos und
Orest verhandelt wird: Or. 485—597, an der Spitzfindigkeit in der Rede
des Orest, Or. 924 ff.
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[543/0559] diesen Kreis altgeheiligten Volkswahnes der Dichter sich nur willkürlich einschliesst, so lange dies der Haltung, die er sich und den Figuren seiner Dramen geben will, entspricht. Die Erinyen sind ihm gut genug zur Bühnenwirkung; dass in der That ihre grässlichen Gestalten nur in der Einbildung des seelisch Kranken vorhanden sind, wird im „Orestes“ geradezu ausgesprochen 1). Und die ganze Kette dieser Vorstellungen und Forderungen, vom Mord der nach der Blutrachepflicht immer neuen Mord hervorrufen muss, von den blutlechzenden Anwälten der ohne nachgebliebene Bluträcher Ermordeten, den Erinyen, hat dem Dichter keine Giltigkeit mehr. Das „Thierische und Bluttriefende“ dieser alten Glaubensbilder er- regt, in der Zeit geordneter Rechtspflege und menschlich milder Sitte, seinen Abscheu 2). Er glaubt nicht an solches Blutrecht der Seelen; die alten Sagen, die in diesem wurzeln, sind ihm ein Gräuel; nur um sich durch die Art der Behandlung an diesen, durch eine Herkömmlichkeit der tragischen Bühne ihm fast aufgedrungenen Stoffen zu rächen, scheint er sie dichte- risch zu gestalten. — So wird denn auch die Verpflichtung der Lebenden, den vorangegangenen Seelen einen Cult zu wid- men, zweifelhaft. Der Ernst, mit dem solcher Cult sonst ge- fordert wird, wird zerstört durch Betrachtungen wie diese: dass dem Todten doch sicherlich an reichen Mitgaben ins Grab 1) Or. 248 f. Nicht viel anders auch Iph. Taur. 288—291. 2) τὸ ϑηριῶδες τοῦτο καὶ μιαιφόνον — Or. 517. Orest hätte, statt selbst zu morden, die Mörder seines Vaters gerichtlich belangen sollen: Or. 490 ff. Agamemnon selbst würde, wenn man ihn hätte befragen können, diese blutige Rache nicht gewünscht haben: Or. 280 ff. Einzig Apolls unweiser Rath hat den Orest zum Muttermord verführt: El. 969 ff.; 1297 f.; Or. 277 ff.; 409; 583 ff. Nach der That empfindet Orest wohl Reue, aber ohne jede religiöse Beängstigung: El. 1177 ff. (dennoch ist viel von den ihn verfolgenden Erinyen der Mutter die Rede). Wie völlig dem Dichter der Sinn für die ganze Kette der Vorstellungen von Blut- rachepflicht u. s. w. geschwunden ist, fühlt sich besonders an der sophi- stischen Kälte mit der hierüber in dem ἀγών zwischen Tyndareos und Orest verhandelt wird: Or. 485—597, an der Spitzfindigkeit in der Rede des Orest, Or. 924 ff.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/559>, abgerufen am 23.11.2024.