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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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und kühn, an dem Bestehenden eine Kritik, mit der er der
Empfindung und dem Witze der Vorfahren sich unbedingt
überlegen fühlt. Aber er thut sich niemals genug. Er kann in
der Negative nicht beharren, weil jede Einseitigkeit ihm gegen
die Natur ist. Der grossen Ehrlichkeit seines Geistes ist jener
Zusatz von Frivolität versagt, der die Sophistik und das freie
Spiel dialektischer Zernichtung alles Festen so einfach und er-
götzlich, und daneben fast harmlos macht. Er seinerseits
kann nichts leicht nehmen; und so wird er seiner Sophistik
selbst nicht froh. Er muss neben und nach ihr auch allen
möglichen anderen Stimmen wieder Gehör geben; er hat selbst
Stunden, in denen er in der Beschränkung altüberlieferter
Frömmigkeit auszuruhen sich sehnt. Aber ein Beharren in
dauernden Gedanken ist ihm nicht gegeben; alle seine Ueber-
zeugungen sind nur vorläufig, wie zum Versuch, festgestellt;
auf schwankender Fläche lässt er von jedem Winde gemüth-
licher Regung oder künstlerischen Bedürfnisses sich hin und
her treiben.

Wo alle Ueberzeugungen in gleitende Bewegung gerathen
sind, werden die Vorstellungen von Sein und Wesen der
menschlichen Seele und ihrem Verhältniss zu den Mächten des
Lebens und des Todes nicht allein in dogmatischer Bestimmt-
heit verharren können.

Der Dichter kann, wo dies Inhalt und Sinn der zum
Gegenstande seines Dramas erwählten Fabel erfordern, treu-
herzig auf volksthümliche Annahmen über Bestimmung und
Schicksal der abgeschiedenen Seelen, deren Macht und An-
sprüche auf Verehrung durch die Nachgebliebenen eingehen.
In dem Märchenspiele der "Alkestis" muss der ganze Apparat
des Volksglaubens mitwirken; vom Todesgotte und seinem
schrecklichen Amte, von dem Aufenthalt der Todten in der
Unterwelt ist wie von Thatsachen und Gestalten der Erfahrung
und Wirklichkeit die Rede 1); der den Todten schuldige Trauer-

1) Thanatos setzt gleich im Prolog seine Ansprüche und sein Amt
auseinander. Er hat die Abgeschiedenen zu empfangen, schneidet ihnen

und kühn, an dem Bestehenden eine Kritik, mit der er der
Empfindung und dem Witze der Vorfahren sich unbedingt
überlegen fühlt. Aber er thut sich niemals genug. Er kann in
der Negative nicht beharren, weil jede Einseitigkeit ihm gegen
die Natur ist. Der grossen Ehrlichkeit seines Geistes ist jener
Zusatz von Frivolität versagt, der die Sophistik und das freie
Spiel dialektischer Zernichtung alles Festen so einfach und er-
götzlich, und daneben fast harmlos macht. Er seinerseits
kann nichts leicht nehmen; und so wird er seiner Sophistik
selbst nicht froh. Er muss neben und nach ihr auch allen
möglichen anderen Stimmen wieder Gehör geben; er hat selbst
Stunden, in denen er in der Beschränkung altüberlieferter
Frömmigkeit auszuruhen sich sehnt. Aber ein Beharren in
dauernden Gedanken ist ihm nicht gegeben; alle seine Ueber-
zeugungen sind nur vorläufig, wie zum Versuch, festgestellt;
auf schwankender Fläche lässt er von jedem Winde gemüth-
licher Regung oder künstlerischen Bedürfnisses sich hin und
her treiben.

Wo alle Ueberzeugungen in gleitende Bewegung gerathen
sind, werden die Vorstellungen von Sein und Wesen der
menschlichen Seele und ihrem Verhältniss zu den Mächten des
Lebens und des Todes nicht allein in dogmatischer Bestimmt-
heit verharren können.

Der Dichter kann, wo dies Inhalt und Sinn der zum
Gegenstande seines Dramas erwählten Fabel erfordern, treu-
herzig auf volksthümliche Annahmen über Bestimmung und
Schicksal der abgeschiedenen Seelen, deren Macht und An-
sprüche auf Verehrung durch die Nachgebliebenen eingehen.
In dem Märchenspiele der „Alkestis“ muss der ganze Apparat
des Volksglaubens mitwirken; vom Todesgotte und seinem
schrecklichen Amte, von dem Aufenthalt der Todten in der
Unterwelt ist wie von Thatsachen und Gestalten der Erfahrung
und Wirklichkeit die Rede 1); der den Todten schuldige Trauer-

1) Thanatos setzt gleich im Prolog seine Ansprüche und sein Amt
auseinander. Er hat die Abgeschiedenen zu empfangen, schneidet ihnen
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[540/0556] und kühn, an dem Bestehenden eine Kritik, mit der er der Empfindung und dem Witze der Vorfahren sich unbedingt überlegen fühlt. Aber er thut sich niemals genug. Er kann in der Negative nicht beharren, weil jede Einseitigkeit ihm gegen die Natur ist. Der grossen Ehrlichkeit seines Geistes ist jener Zusatz von Frivolität versagt, der die Sophistik und das freie Spiel dialektischer Zernichtung alles Festen so einfach und er- götzlich, und daneben fast harmlos macht. Er seinerseits kann nichts leicht nehmen; und so wird er seiner Sophistik selbst nicht froh. Er muss neben und nach ihr auch allen möglichen anderen Stimmen wieder Gehör geben; er hat selbst Stunden, in denen er in der Beschränkung altüberlieferter Frömmigkeit auszuruhen sich sehnt. Aber ein Beharren in dauernden Gedanken ist ihm nicht gegeben; alle seine Ueber- zeugungen sind nur vorläufig, wie zum Versuch, festgestellt; auf schwankender Fläche lässt er von jedem Winde gemüth- licher Regung oder künstlerischen Bedürfnisses sich hin und her treiben. Wo alle Ueberzeugungen in gleitende Bewegung gerathen sind, werden die Vorstellungen von Sein und Wesen der menschlichen Seele und ihrem Verhältniss zu den Mächten des Lebens und des Todes nicht allein in dogmatischer Bestimmt- heit verharren können. Der Dichter kann, wo dies Inhalt und Sinn der zum Gegenstande seines Dramas erwählten Fabel erfordern, treu- herzig auf volksthümliche Annahmen über Bestimmung und Schicksal der abgeschiedenen Seelen, deren Macht und An- sprüche auf Verehrung durch die Nachgebliebenen eingehen. In dem Märchenspiele der „Alkestis“ muss der ganze Apparat des Volksglaubens mitwirken; vom Todesgotte und seinem schrecklichen Amte, von dem Aufenthalt der Todten in der Unterwelt ist wie von Thatsachen und Gestalten der Erfahrung und Wirklichkeit die Rede 1); der den Todten schuldige Trauer- 1) Thanatos setzt gleich im Prolog seine Ansprüche und sein Amt auseinander. Er hat die Abgeschiedenen zu empfangen, schneidet ihnen

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 540. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/556>, abgerufen am 23.11.2024.