Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

zählt wird, hat freilich, in Wahrheit zeitlos, nur durch die
trügerischen Anordnungskünste der Mythengeschichtschreiber
gelehrter Zeit den Anschein zeitlich bestimmbarer Ereignisse
gewonnen. Und was den Ausgang und die Spitze der meisten
jener Erzählungen bildet: wie die Widerstrebenden selbst, von
um so wilderer Manie überfallen, in bakchischem Wahnsinn
statt des Opferthiers die eigenen Kinder erwürgen und zer-
reissen, oder (wie Pentheus) selbst den rasenden Weibern als
Opferthier gelten und von ihnen zerrissen werden -- das sind
Sagen von der Art der vorbildlichen Mythen, durch welche
einzelne Vorgänge des Gottesdienstes, sei es in der Erinne-
rung lebende oder gar noch in der Wirklichkeit übliche Opfer
eines Menschen an dionysischen Festen, ein Vorbild und recht-
fertigende Erklärung an einem für geschichtlich wahr genom-
menen Vorgang der Sagenzeit gewinnen sollen 1). Dennoch liegt
ein Kern geschichtlicher Wahrheit in diesen Erzählungen. In
ihnen allen ist die Voraussetzung, dass der dionysische Cult
aus der Fremde und als ein Fremdes in Griechenland ein-
gedrungen sei. Wie diese Voraussetzung offenkundig dem
thatsächlichen Verlauf der Ereignisse entspricht, so kann es
auch nicht leere Erdichtung sein, was die Sage, hieran un-
mittelbar anschliessend, von dem heftigen Widerstand, den
dieser und eben nur dieser Cult an mehreren Stellen Griechen-

Dionysos; Sieg des Perseus, aber endlich Versöhnung, Einrichtung eines
Cultus, Errichtung eines Heiligthums des Dionysos Kresios: Pausan. 2, 20, 4;
22, 1; 23, 7. 8. Aehnlich Nonnus, Dionys. 47, 475--741; Apollod. 3, 5,
2, 3; Schol. V. Il. 14, 319. Vgl. Meineke, Anal. Alex. 51. (Dionysos fällt im
Kampfe gegen Perseus: Dinarch "der Dichter" bei Euseb. chron. Il, p. 44.
45 [a. 718 Abr.]. S. Lobeck, Agl. 573 f.) -- Lykurg gehört eigentlich
nicht in diese Reihe; die Sage von ihm, wie sie Apollodor 3, 5, 1 (wahr-
scheinlich nach der Gestaltung, die Aeschylus ihr gegeben hatte) erzählt,
ist eine spätere Umdichtung der bei Homer erhaltenen Fabel nach dem
Vorbild der Geschichten von Pentheus und von den Minyaden oder von
den Proetiden.
1) Deutlich ist dies namentlich in der auf Orchomenos bezüglichen
Sage: vgl. den Bericht bei Plut. Quaest. graec. 38. Auch für die übrigen
Sagen ist gleicher Anlass im Opferritual sehr wahrscheinlich. Vgl. Welcker,
Gr. Götterl. 1, 444 ff.

zählt wird, hat freilich, in Wahrheit zeitlos, nur durch die
trügerischen Anordnungskünste der Mythengeschichtschreiber
gelehrter Zeit den Anschein zeitlich bestimmbarer Ereignisse
gewonnen. Und was den Ausgang und die Spitze der meisten
jener Erzählungen bildet: wie die Widerstrebenden selbst, von
um so wilderer Manie überfallen, in bakchischem Wahnsinn
statt des Opferthiers die eigenen Kinder erwürgen und zer-
reissen, oder (wie Pentheus) selbst den rasenden Weibern als
Opferthier gelten und von ihnen zerrissen werden — das sind
Sagen von der Art der vorbildlichen Mythen, durch welche
einzelne Vorgänge des Gottesdienstes, sei es in der Erinne-
rung lebende oder gar noch in der Wirklichkeit übliche Opfer
eines Menschen an dionysischen Festen, ein Vorbild und recht-
fertigende Erklärung an einem für geschichtlich wahr genom-
menen Vorgang der Sagenzeit gewinnen sollen 1). Dennoch liegt
ein Kern geschichtlicher Wahrheit in diesen Erzählungen. In
ihnen allen ist die Voraussetzung, dass der dionysische Cult
aus der Fremde und als ein Fremdes in Griechenland ein-
gedrungen sei. Wie diese Voraussetzung offenkundig dem
thatsächlichen Verlauf der Ereignisse entspricht, so kann es
auch nicht leere Erdichtung sein, was die Sage, hieran un-
mittelbar anschliessend, von dem heftigen Widerstand, den
dieser und eben nur dieser Cult an mehreren Stellen Griechen-

Dionysos; Sieg des Perseus, aber endlich Versöhnung, Einrichtung eines
Cultus, Errichtung eines Heiligthums des Dionysos Kresios: Pausan. 2, 20, 4;
22, 1; 23, 7. 8. Aehnlich Nonnus, Dionys. 47, 475—741; Apollod. 3, 5,
2, 3; Schol. V. Il. 14, 319. Vgl. Meineke, Anal. Alex. 51. (Dionysos fällt im
Kampfe gegen Perseus: Dinarch „der Dichter“ bei Euseb. chron. Il, p. 44.
45 [a. 718 Abr.]. S. Lobeck, Agl. 573 f.) — Lykurg gehört eigentlich
nicht in diese Reihe; die Sage von ihm, wie sie Apollodor 3, 5, 1 (wahr-
scheinlich nach der Gestaltung, die Aeschylus ihr gegeben hatte) erzählt,
ist eine spätere Umdichtung der bei Homer erhaltenen Fabel nach dem
Vorbild der Geschichten von Pentheus und von den Minyaden oder von
den Proetiden.
1) Deutlich ist dies namentlich in der auf Orchomenos bezüglichen
Sage: vgl. den Bericht bei Plut. Quaest. graec. 38. Auch für die übrigen
Sagen ist gleicher Anlass im Opferritual sehr wahrscheinlich. Vgl. Welcker,
Gr. Götterl. 1, 444 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div>
          <p><pb facs="#f0345" n="329"/>
zählt wird, hat freilich, in Wahrheit zeitlos, nur durch die<lb/>
trügerischen Anordnungskünste der Mythengeschichtschreiber<lb/>
gelehrter Zeit den Anschein zeitlich bestimmbarer Ereignisse<lb/>
gewonnen. Und was den Ausgang und die Spitze der meisten<lb/>
jener Erzählungen bildet: wie die Widerstrebenden selbst, von<lb/>
um so wilderer Manie überfallen, in bakchischem Wahnsinn<lb/>
statt des Opferthiers die eigenen Kinder erwürgen und zer-<lb/>
reissen, oder (wie Pentheus) selbst den rasenden Weibern als<lb/>
Opferthier gelten und von ihnen zerrissen werden &#x2014; das sind<lb/>
Sagen von der Art der vorbildlichen Mythen, durch welche<lb/>
einzelne Vorgänge des Gottesdienstes, sei es in der Erinne-<lb/>
rung lebende oder gar noch in der Wirklichkeit übliche Opfer<lb/>
eines Menschen an dionysischen Festen, ein Vorbild und recht-<lb/>
fertigende Erklärung an einem für geschichtlich wahr genom-<lb/>
menen Vorgang der Sagenzeit gewinnen sollen <note place="foot" n="1)">Deutlich ist dies namentlich in der auf Orchomenos bezüglichen<lb/>
Sage: vgl. den Bericht bei Plut. <hi rendition="#i">Quaest. graec.</hi> 38. Auch für die übrigen<lb/>
Sagen ist gleicher Anlass im Opferritual sehr wahrscheinlich. Vgl. Welcker,<lb/>
Gr. Götterl. 1, 444 ff.</note>. Dennoch liegt<lb/>
ein Kern geschichtlicher Wahrheit in diesen Erzählungen. In<lb/>
ihnen allen ist die Voraussetzung, dass der dionysische Cult<lb/>
aus der Fremde und als ein Fremdes in Griechenland ein-<lb/>
gedrungen sei. Wie diese Voraussetzung offenkundig dem<lb/>
thatsächlichen Verlauf der Ereignisse entspricht, so kann es<lb/>
auch nicht leere Erdichtung sein, was die Sage, hieran un-<lb/>
mittelbar anschliessend, von dem heftigen Widerstand, den<lb/>
dieser und eben nur dieser Cult an mehreren Stellen Griechen-<lb/><note xml:id="seg2pn_106_2" prev="#seg2pn_106_1" place="foot" n="2)">Dionysos; Sieg des Perseus, aber endlich Versöhnung, Einrichtung eines<lb/>
Cultus, Errichtung eines Heiligthums des Dionysos Kresios: Pausan. 2, 20, 4;<lb/>
22, 1; 23, 7. 8. Aehnlich Nonnus, <hi rendition="#i">Dionys.</hi> 47, 475&#x2014;741; Apollod. 3, 5,<lb/>
2, 3; Schol. V. Il. 14, 319. Vgl. Meineke, <hi rendition="#i">Anal. Alex.</hi> 51. (Dionysos fällt im<lb/>
Kampfe gegen Perseus: Dinarch &#x201E;der Dichter&#x201C; bei Euseb. <hi rendition="#i">chron.</hi> Il, p. 44.<lb/>
45 [a. 718 Abr.]. S. Lobeck, <hi rendition="#i">Agl.</hi> 573 f.) &#x2014; Lykurg gehört eigentlich<lb/>
nicht in diese Reihe; die Sage von ihm, wie sie Apollodor 3, 5, 1 (wahr-<lb/>
scheinlich nach der Gestaltung, die Aeschylus ihr gegeben hatte) erzählt,<lb/>
ist eine spätere Umdichtung der bei Homer erhaltenen Fabel nach dem<lb/>
Vorbild der Geschichten von Pentheus und von den Minyaden oder von<lb/>
den Proetiden.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[329/0345] zählt wird, hat freilich, in Wahrheit zeitlos, nur durch die trügerischen Anordnungskünste der Mythengeschichtschreiber gelehrter Zeit den Anschein zeitlich bestimmbarer Ereignisse gewonnen. Und was den Ausgang und die Spitze der meisten jener Erzählungen bildet: wie die Widerstrebenden selbst, von um so wilderer Manie überfallen, in bakchischem Wahnsinn statt des Opferthiers die eigenen Kinder erwürgen und zer- reissen, oder (wie Pentheus) selbst den rasenden Weibern als Opferthier gelten und von ihnen zerrissen werden — das sind Sagen von der Art der vorbildlichen Mythen, durch welche einzelne Vorgänge des Gottesdienstes, sei es in der Erinne- rung lebende oder gar noch in der Wirklichkeit übliche Opfer eines Menschen an dionysischen Festen, ein Vorbild und recht- fertigende Erklärung an einem für geschichtlich wahr genom- menen Vorgang der Sagenzeit gewinnen sollen 1). Dennoch liegt ein Kern geschichtlicher Wahrheit in diesen Erzählungen. In ihnen allen ist die Voraussetzung, dass der dionysische Cult aus der Fremde und als ein Fremdes in Griechenland ein- gedrungen sei. Wie diese Voraussetzung offenkundig dem thatsächlichen Verlauf der Ereignisse entspricht, so kann es auch nicht leere Erdichtung sein, was die Sage, hieran un- mittelbar anschliessend, von dem heftigen Widerstand, den dieser und eben nur dieser Cult an mehreren Stellen Griechen- 2) 1) Deutlich ist dies namentlich in der auf Orchomenos bezüglichen Sage: vgl. den Bericht bei Plut. Quaest. graec. 38. Auch für die übrigen Sagen ist gleicher Anlass im Opferritual sehr wahrscheinlich. Vgl. Welcker, Gr. Götterl. 1, 444 ff. 2) Dionysos; Sieg des Perseus, aber endlich Versöhnung, Einrichtung eines Cultus, Errichtung eines Heiligthums des Dionysos Kresios: Pausan. 2, 20, 4; 22, 1; 23, 7. 8. Aehnlich Nonnus, Dionys. 47, 475—741; Apollod. 3, 5, 2, 3; Schol. V. Il. 14, 319. Vgl. Meineke, Anal. Alex. 51. (Dionysos fällt im Kampfe gegen Perseus: Dinarch „der Dichter“ bei Euseb. chron. Il, p. 44. 45 [a. 718 Abr.]. S. Lobeck, Agl. 573 f.) — Lykurg gehört eigentlich nicht in diese Reihe; die Sage von ihm, wie sie Apollodor 3, 5, 1 (wahr- scheinlich nach der Gestaltung, die Aeschylus ihr gegeben hatte) erzählt, ist eine spätere Umdichtung der bei Homer erhaltenen Fabel nach dem Vorbild der Geschichten von Pentheus und von den Minyaden oder von den Proetiden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/345
Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/345>, abgerufen am 17.05.2024.