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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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Erzählung beider homerischen Gedichte in das Leben und die
Schicksale der Menschen nirgends ein. Es ist nicht nöthig,
für das Zurücktreten des Dionysos in der homerischen Dich-
tung weither geholte Gründe beizubringen. Homers Schweigen
sagt es deutlich genug, dass zu jener Zeit der thrakische Gott
im griechischen Leben und Glauben eine über local be-
schränkten Cult hinausgehende Bedeutung noch nicht ge-
wonnen hatte. Das ist leicht verständlich. Denn nur all-
mählich hat sich in Griechenland der Dienst des Dionysos
Geltung errungen. Von Kämpfen und Widerstand gegen
den fremden und fremdartigen Cult berichten mancherlei Sagen.
Es wird erzählt, wie dionysische Raserei, die Ekstase der dionysi-
schen Tanzfeste, das gesammte Weibervolk mancher Land-
schaften in Mittelgriechenland und dem Peloponnes ergriffen
habe 1). Einzelne Frauen weigern sich, den auf den Berghöhen
in bakchischer Raserei herumschweifenden Genossinnen sich an-
zuschliessen, hier und da widersetzt sich der König des Landes
dem Eindringen dieses tobenden Gottesdienstes. Was uns von
dem Widerstand der Töchter des Minyas in Orchomenos, des
Proitos in Tiryns, der Könige Pentheus von Theben, Perseus
von Argos 2) gegen die eindringende dionysische Cultweise er-

1) Die Weiber in Böotien entheotata emanesan (vgl. Eurip. Bacch.)
tais Lakedaimonion gunaixin enepese tis oistros bakkhikos kai tais ton
Khion. Aelian. var. hist. 3, 42. Ganz allgemein vom Rasen der Weiber in
Argos (ton en Argei gunaikon maneiseon) redet Herodot 9, 34, wo andere
nur von Raserei der Töchter des Proitos sprechen. Beides schliesst sich
nicht aus, es sind zwei Stadien derselben Geschichte. Das mainesthai der
gesammten weiblichen Bevölkerung ist nicht (wie es in späteren Berichten
allerdings bisweilen aussieht) eine Strafe des Dionysos, sondern nur ein
anderer Ausdruck für die Annahme seines Cultes (= bakkheuein Ant. Lib. 10)
der eben im mainesthai besteht. Das mainesthai der einzelnen anfangs der,
epidemisch um sich greifenden, dionysischen Schwärmerei widerstrebenden
Frauen (auch der Töchter des Eleuther: Suid. s. melanaig. Dion.) ist eine
Strafe des erzürnten Gottes insoweit es sie zur Erwürgung der eigenen
Kinder treibt. -- Das allgemein verbreitete "Rasen" im neu eindringen-
den Dionysoscult berührt auch Diodor 4, 68, 4; Apollodor. 2, 2, 2, 5; Pau-
san. 2, 18, 4. Vgl. Nonnus Dionys. 47, 481 ff.
2) Kampf des Perseus gegen den mit den Mänaden heranziehenden

Erzählung beider homerischen Gedichte in das Leben und die
Schicksale der Menschen nirgends ein. Es ist nicht nöthig,
für das Zurücktreten des Dionysos in der homerischen Dich-
tung weither geholte Gründe beizubringen. Homers Schweigen
sagt es deutlich genug, dass zu jener Zeit der thrakische Gott
im griechischen Leben und Glauben eine über local be-
schränkten Cult hinausgehende Bedeutung noch nicht ge-
wonnen hatte. Das ist leicht verständlich. Denn nur all-
mählich hat sich in Griechenland der Dienst des Dionysos
Geltung errungen. Von Kämpfen und Widerstand gegen
den fremden und fremdartigen Cult berichten mancherlei Sagen.
Es wird erzählt, wie dionysische Raserei, die Ekstase der dionysi-
schen Tanzfeste, das gesammte Weibervolk mancher Land-
schaften in Mittelgriechenland und dem Peloponnes ergriffen
habe 1). Einzelne Frauen weigern sich, den auf den Berghöhen
in bakchischer Raserei herumschweifenden Genossinnen sich an-
zuschliessen, hier und da widersetzt sich der König des Landes
dem Eindringen dieses tobenden Gottesdienstes. Was uns von
dem Widerstand der Töchter des Minyas in Orchomenos, des
Proitos in Tiryns, der Könige Pentheus von Theben, Perseus
von Argos 2) gegen die eindringende dionysische Cultweise er-

1) Die Weiber in Böotien ἐνϑεώτατα ἐμάνησαν (vgl. Eurip. Bacch.)
ταῖς Λακεδαιμονίων γυναιξὶν ἐνέπεσέ τις οἶστρος βακχικὸς καὶ ταῖς τῶν
Χίων. Aelian. var. hist. 3, 42. Ganz allgemein vom Rasen der Weiber in
Argos (τῶν ἐν Ἄργεϊ γυναικῶν μανεισέων) redet Herodot 9, 34, wo andere
nur von Raserei der Töchter des Proitos sprechen. Beides schliesst sich
nicht aus, es sind zwei Stadien derselben Geschichte. Das μαίνεσϑαι der
gesammten weiblichen Bevölkerung ist nicht (wie es in späteren Berichten
allerdings bisweilen aussieht) eine Strafe des Dionysos, sondern nur ein
anderer Ausdruck für die Annahme seines Cultes (= βακχεύειν Ant. Lib. 10)
der eben im μαίνεσϑαι besteht. Das μαίνεσϑαι der einzelnen anfangs der,
epidemisch um sich greifenden, dionysischen Schwärmerei widerstrebenden
Frauen (auch der Töchter des Eleuther: Suid. s. μελαναιγ. Διόν.) ist eine
Strafe des erzürnten Gottes insoweit es sie zur Erwürgung der eigenen
Kinder treibt. — Das allgemein verbreitete „Rasen“ im neu eindringen-
den Dionysoscult berührt auch Diodor 4, 68, 4; Apollodor. 2, 2, 2, 5; Pau-
san. 2, 18, 4. Vgl. Nonnus Dionys. 47, 481 ff.
2) Kampf des Perseus gegen den mit den Mänaden heranziehenden
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[328/0344] Erzählung beider homerischen Gedichte in das Leben und die Schicksale der Menschen nirgends ein. Es ist nicht nöthig, für das Zurücktreten des Dionysos in der homerischen Dich- tung weither geholte Gründe beizubringen. Homers Schweigen sagt es deutlich genug, dass zu jener Zeit der thrakische Gott im griechischen Leben und Glauben eine über local be- schränkten Cult hinausgehende Bedeutung noch nicht ge- wonnen hatte. Das ist leicht verständlich. Denn nur all- mählich hat sich in Griechenland der Dienst des Dionysos Geltung errungen. Von Kämpfen und Widerstand gegen den fremden und fremdartigen Cult berichten mancherlei Sagen. Es wird erzählt, wie dionysische Raserei, die Ekstase der dionysi- schen Tanzfeste, das gesammte Weibervolk mancher Land- schaften in Mittelgriechenland und dem Peloponnes ergriffen habe 1). Einzelne Frauen weigern sich, den auf den Berghöhen in bakchischer Raserei herumschweifenden Genossinnen sich an- zuschliessen, hier und da widersetzt sich der König des Landes dem Eindringen dieses tobenden Gottesdienstes. Was uns von dem Widerstand der Töchter des Minyas in Orchomenos, des Proitos in Tiryns, der Könige Pentheus von Theben, Perseus von Argos 2) gegen die eindringende dionysische Cultweise er- 1) Die Weiber in Böotien ἐνϑεώτατα ἐμάνησαν (vgl. Eurip. Bacch.) ταῖς Λακεδαιμονίων γυναιξὶν ἐνέπεσέ τις οἶστρος βακχικὸς καὶ ταῖς τῶν Χίων. Aelian. var. hist. 3, 42. Ganz allgemein vom Rasen der Weiber in Argos (τῶν ἐν Ἄργεϊ γυναικῶν μανεισέων) redet Herodot 9, 34, wo andere nur von Raserei der Töchter des Proitos sprechen. Beides schliesst sich nicht aus, es sind zwei Stadien derselben Geschichte. Das μαίνεσϑαι der gesammten weiblichen Bevölkerung ist nicht (wie es in späteren Berichten allerdings bisweilen aussieht) eine Strafe des Dionysos, sondern nur ein anderer Ausdruck für die Annahme seines Cultes (= βακχεύειν Ant. Lib. 10) der eben im μαίνεσϑαι besteht. Das μαίνεσϑαι der einzelnen anfangs der, epidemisch um sich greifenden, dionysischen Schwärmerei widerstrebenden Frauen (auch der Töchter des Eleuther: Suid. s. μελαναιγ. Διόν.) ist eine Strafe des erzürnten Gottes insoweit es sie zur Erwürgung der eigenen Kinder treibt. — Das allgemein verbreitete „Rasen“ im neu eindringen- den Dionysoscult berührt auch Diodor 4, 68, 4; Apollodor. 2, 2, 2, 5; Pau- san. 2, 18, 4. Vgl. Nonnus Dionys. 47, 481 ff. 2) Kampf des Perseus gegen den mit den Mänaden heranziehenden

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/344>, abgerufen am 17.05.2024.