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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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die athenischen Verhältnisse. In Athen haben nach altem, seit
der gesetzlichen Festsetzung durch Drakon niemals ausser
Geltung gekommenen Rechte zur gerichtlichen Verfolgung des
Mörders die nächsten Verwandten des Ermordeten (oder unter
Umständen die Genossen der Phratria, der er angehört hatte)
das ausschliessliche Recht, aber auch die unerlässliche Ver-
pflichtung. Offenbar hat sich in dieser Anklagepflicht der
Verwandten ein, nach den Anforderungen des Staatswohls um-
gestalteter Rest der alten Blutrachepflicht erhalten. Es ist
der gleiche, zu enger sacraler Gemeinschaft verbundene Kreis
der Verwandten bis in das dritte Glied, denen die Erbberech-
tigung zusteht zugleich mit der Pflicht des Seelencultes, die
hier dem durch Gewalt um's Leben Gekommenen zu "helfen"
berufen sind. Der Grund dieser, aus der alten Blutrache ab-
geleiteten Verpflichtung versteht sich leicht: auch dies ist ein
Theil des, jenen Verwandtenkreisen obliegenden Seelencultes.
Nicht ein abstractes "Recht", sondern die ganz persönlichen
Ansprüche des Verstorbenen haben seine Hinterbliebenen zu
vertreten. In voller Kraft lebte noch im fünften und vierten
Jahrhundert in Athen der Glaube, dass die Seele des gewaltsam
Getödteten, bevor das ihm geschehene Unrecht an dem Thäter
gerächt sei, unstät umirre 1), zürnend über den Frevel, zürnend
auch den zur Rache Berufenen, wenn sie ihre Pflicht ver-
säumen. Sie selber wird zum "Rachegeist"; ihr Groll kann auf
ganze Generationen hinaus furchtbar wirken 2). Für sie, als

des Zaleukos, angeschlossen an kretische, spartanische und Areopagitische
Satzungen: das letztere doch ohne Zweifel im Blutrecht, das also staatlich
geregelt war. (Strabo 6, 260, nach Ephorus.)
1) Von dem Umirren der biaiothanatoi ist weiter unten genauer zu
reden. Einstweilen sei verwiesen auf Aeschylus, Eumen. 98, wo die noch
ungerächte Seele der erschlagenen Klytaemnestra klagt: aiskhros alomai.
Und altem Glauben entsprechend sagt ein später Zeuge (Porphyr. abst. 2,
47): ton anthropon ai ton bia apothanonton (psukhai) katekhontai pros to so-
mati, gleich den Seelen der ataphoi.
2) In homerischer Zeit wird der gekränkte Todte dem Uebelthäter
ein theon menima (Il. 22, 358, Od. 11, 73); nach dem Glauben der späteren
Zeit zürnt die Seele des Ermordeten selbst, ängstigt und verfolgt den

die athenischen Verhältnisse. In Athen haben nach altem, seit
der gesetzlichen Festsetzung durch Drakon niemals ausser
Geltung gekommenen Rechte zur gerichtlichen Verfolgung des
Mörders die nächsten Verwandten des Ermordeten (oder unter
Umständen die Genossen der Phratria, der er angehört hatte)
das ausschliessliche Recht, aber auch die unerlässliche Ver-
pflichtung. Offenbar hat sich in dieser Anklagepflicht der
Verwandten ein, nach den Anforderungen des Staatswohls um-
gestalteter Rest der alten Blutrachepflicht erhalten. Es ist
der gleiche, zu enger sacraler Gemeinschaft verbundene Kreis
der Verwandten bis in das dritte Glied, denen die Erbberech-
tigung zusteht zugleich mit der Pflicht des Seelencultes, die
hier dem durch Gewalt um’s Leben Gekommenen zu „helfen“
berufen sind. Der Grund dieser, aus der alten Blutrache ab-
geleiteten Verpflichtung versteht sich leicht: auch dies ist ein
Theil des, jenen Verwandtenkreisen obliegenden Seelencultes.
Nicht ein abstractes „Recht“, sondern die ganz persönlichen
Ansprüche des Verstorbenen haben seine Hinterbliebenen zu
vertreten. In voller Kraft lebte noch im fünften und vierten
Jahrhundert in Athen der Glaube, dass die Seele des gewaltsam
Getödteten, bevor das ihm geschehene Unrecht an dem Thäter
gerächt sei, unstät umirre 1), zürnend über den Frevel, zürnend
auch den zur Rache Berufenen, wenn sie ihre Pflicht ver-
säumen. Sie selber wird zum „Rachegeist“; ihr Groll kann auf
ganze Generationen hinaus furchtbar wirken 2). Für sie, als

des Zaleukos, angeschlossen an kretische, spartanische und Areopagitische
Satzungen: das letztere doch ohne Zweifel im Blutrecht, das also staatlich
geregelt war. (Strabo 6, 260, nach Ephorus.)
1) Von dem Umirren der βιαιοϑάνατοι ist weiter unten genauer zu
reden. Einstweilen sei verwiesen auf Aeschylus, Eumen. 98, wo die noch
ungerächte Seele der erschlagenen Klytaemnestra klagt: αἰσχρῶς ἀλῶμαι.
Und altem Glauben entsprechend sagt ein später Zeuge (Porphyr. abst. 2,
47): τῶν ἀνϑρώπων αἱ τῶν βίᾳ ἀποϑανόντων (ψυχαὶ) κατέχονται πρὸς τῷ σώ-
ματι, gleich den Seelen der ἄταφοι.
2) In homerischer Zeit wird der gekränkte Todte dem Uebelthäter
ein ϑεῶν μήνιμα (Il. 22, 358, Od. 11, 73); nach dem Glauben der späteren
Zeit zürnt die Seele des Ermordeten selbst, ängstigt und verfolgt den
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[240/0256] die athenischen Verhältnisse. In Athen haben nach altem, seit der gesetzlichen Festsetzung durch Drakon niemals ausser Geltung gekommenen Rechte zur gerichtlichen Verfolgung des Mörders die nächsten Verwandten des Ermordeten (oder unter Umständen die Genossen der Phratria, der er angehört hatte) das ausschliessliche Recht, aber auch die unerlässliche Ver- pflichtung. Offenbar hat sich in dieser Anklagepflicht der Verwandten ein, nach den Anforderungen des Staatswohls um- gestalteter Rest der alten Blutrachepflicht erhalten. Es ist der gleiche, zu enger sacraler Gemeinschaft verbundene Kreis der Verwandten bis in das dritte Glied, denen die Erbberech- tigung zusteht zugleich mit der Pflicht des Seelencultes, die hier dem durch Gewalt um’s Leben Gekommenen zu „helfen“ berufen sind. Der Grund dieser, aus der alten Blutrache ab- geleiteten Verpflichtung versteht sich leicht: auch dies ist ein Theil des, jenen Verwandtenkreisen obliegenden Seelencultes. Nicht ein abstractes „Recht“, sondern die ganz persönlichen Ansprüche des Verstorbenen haben seine Hinterbliebenen zu vertreten. In voller Kraft lebte noch im fünften und vierten Jahrhundert in Athen der Glaube, dass die Seele des gewaltsam Getödteten, bevor das ihm geschehene Unrecht an dem Thäter gerächt sei, unstät umirre 1), zürnend über den Frevel, zürnend auch den zur Rache Berufenen, wenn sie ihre Pflicht ver- säumen. Sie selber wird zum „Rachegeist“; ihr Groll kann auf ganze Generationen hinaus furchtbar wirken 2). Für sie, als 1) 1) Von dem Umirren der βιαιοϑάνατοι ist weiter unten genauer zu reden. Einstweilen sei verwiesen auf Aeschylus, Eumen. 98, wo die noch ungerächte Seele der erschlagenen Klytaemnestra klagt: αἰσχρῶς ἀλῶμαι. Und altem Glauben entsprechend sagt ein später Zeuge (Porphyr. abst. 2, 47): τῶν ἀνϑρώπων αἱ τῶν βίᾳ ἀποϑανόντων (ψυχαὶ) κατέχονται πρὸς τῷ σώ- ματι, gleich den Seelen der ἄταφοι. 2) In homerischer Zeit wird der gekränkte Todte dem Uebelthäter ein ϑεῶν μήνιμα (Il. 22, 358, Od. 11, 73); nach dem Glauben der späteren Zeit zürnt die Seele des Ermordeten selbst, ängstigt und verfolgt den 1) des Zaleukos, angeschlossen an kretische, spartanische und Areopagitische Satzungen: das letztere doch ohne Zweifel im Blutrecht, das also staatlich geregelt war. (Strabo 6, 260, nach Ephorus.)

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/256>, abgerufen am 09.11.2024.