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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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glaubens fast zu völliger Nichtigkeit, wie sie die homerischen Ge-
dichte überall zeigen, ist diese Abschwächung des Glaubens an
einem einzelnen Puncte nicht überraschend. Es tritt aber auch
hier, wie bei einer Betrachtung des homerischen Seelenglaubens
überall, hervor, dass die Vorstellung von Machtlosigkeit und
schattenhafter Schwäche der Seelen nicht die ursprüngliche ist,
sondern einer älteren, die den Seelen dauerndes Bewusstsein
und Einfluss auf die Zustände unter den Lebendigen zutraut,
erst im Laufe der Zeit sich untergeschoben hat. Von jener
älteren Vorstellung giebt die auch noch im homerischen
Griechenland unvergessene Verpflichtung zur Blutrache nach-
drücklich Zeugniss.

In späterer Zeit ist die Verfolgung und Bestrafung des
Todtschlags nach wesentlich anderen Grundsätzen geordnet.
Der Staat erkannte sein Interesse an der Ahndung des
Friedensbruches an; wir dürfen annehmen, dass in griechischen
Städten überall der Staat in seinen Gerichtshöfen an der ge-
regelten Untersuchung und Bestrafung des Mordes sich be-
theiligte1). Deutlicheren Einblick haben wir auch hier nur in

die Abfindung des lebenden Rächers gedacht. -- Auf keinen Fall ist in
der Möglichkeit, Blutrache abzukaufen, die Folge einer Milderung alter
Wildheit der Rache durch den Staat zu erkennen. Der Staat hat hier
nichts gemildert, denn er kümmert sich bei Homer überhaupt um die
Behandlung von Mordfällen gar nicht. Ob die stipulirte poine entrichtet
worden ist oder nicht, darüber kann ein Gericht stattfinden (Il. 18,
497 ff.), so gut wie über jedes sumbolaion; die Verfolgung der Mörder
und ihre Modalitäten bleiben völlig der Familie des Ermordeten über-
lassen.
1) Wir wissen sehr wenig Einzelnes hiervon. In Sparta oi gerontes
(dikazousi) tas phonikas (dikas) Aristot. Polit. 3, 1 p. 1275b, 10 (ebenso in
Korinth: Diod. 16, 65, 6 ff.). Auf unfreiwilligem Todtschlag stand Ver-
bannung, und zwar (strenger als in Athen), wie es scheint, auf immer.
Der Spartiate Drakontios, im Heere der Zehntausend dienend, ephuge pais
on oikothen paida akon katakanon (also wie Patroklos, Il. 23) xuele pataxas.
Xen. Anab. 4, 8, 25. Zeitweilige Verbannung musste längst abgelaufen
sein. -- In Kyme Spuren von gerichtlicher Verfolgung des Mordes
(mit Zeugen): Aristot. Pol. 2, 8, p. 1269 a, 1 ff. -- In Chalkis epi Thrake
galten Gesetze des Androdamas aus Rhegion peri te ta phonika kai tas
epiklerous, Aristot. Polit. 2, 12, p. 1274 b, 23 ff. -- In Lokri Gesetze

glaubens fast zu völliger Nichtigkeit, wie sie die homerischen Ge-
dichte überall zeigen, ist diese Abschwächung des Glaubens an
einem einzelnen Puncte nicht überraschend. Es tritt aber auch
hier, wie bei einer Betrachtung des homerischen Seelenglaubens
überall, hervor, dass die Vorstellung von Machtlosigkeit und
schattenhafter Schwäche der Seelen nicht die ursprüngliche ist,
sondern einer älteren, die den Seelen dauerndes Bewusstsein
und Einfluss auf die Zustände unter den Lebendigen zutraut,
erst im Laufe der Zeit sich untergeschoben hat. Von jener
älteren Vorstellung giebt die auch noch im homerischen
Griechenland unvergessene Verpflichtung zur Blutrache nach-
drücklich Zeugniss.

In späterer Zeit ist die Verfolgung und Bestrafung des
Todtschlags nach wesentlich anderen Grundsätzen geordnet.
Der Staat erkannte sein Interesse an der Ahndung des
Friedensbruches an; wir dürfen annehmen, dass in griechischen
Städten überall der Staat in seinen Gerichtshöfen an der ge-
regelten Untersuchung und Bestrafung des Mordes sich be-
theiligte1). Deutlicheren Einblick haben wir auch hier nur in

die Abfindung des lebenden Rächers gedacht. — Auf keinen Fall ist in
der Möglichkeit, Blutrache abzukaufen, die Folge einer Milderung alter
Wildheit der Rache durch den Staat zu erkennen. Der Staat hat hier
nichts gemildert, denn er kümmert sich bei Homer überhaupt um die
Behandlung von Mordfällen gar nicht. Ob die stipulirte ποινή entrichtet
worden ist oder nicht, darüber kann ein Gericht stattfinden (Il. 18,
497 ff.), so gut wie über jedes συμβόλαιον; die Verfolgung der Mörder
und ihre Modalitäten bleiben völlig der Familie des Ermordeten über-
lassen.
1) Wir wissen sehr wenig Einzelnes hiervon. In Sparta οἱ γέροντες
(δικάζουσι) τἀς φονικὰς (δίκας) Aristot. Polit. 3, 1 p. 1275b, 10 (ebenso in
Korinth: Diod. 16, 65, 6 ff.). Auf unfreiwilligem Todtschlag stand Ver-
bannung, und zwar (strenger als in Athen), wie es scheint, auf immer.
Der Spartiate Drakontios, im Heere der Zehntausend dienend, ἔφυγε παῖς
ὢν οἴκοϑεν παῖδα ἄκων κατακανὼν (also wie Patroklos, Il. 23) ξυήλῃ πατάξας.
Xen. Anab. 4, 8, 25. Zeitweilige Verbannung musste längst abgelaufen
sein. — In Kyme Spuren von gerichtlicher Verfolgung des Mordes
(mit Zeugen): Aristot. Pol. 2, 8, p. 1269 a, 1 ff. — In Chalkis ἐπὶ Θράκῃ
galten Gesetze des Androdamas aus Rhegion περί τε τὰ φονικὰ καὶ τὰς
ἐπικλήρους, Aristot. Polit. 2, 12, p. 1274 b, 23 ff. — In Lokri Gesetze
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[239/0255] glaubens fast zu völliger Nichtigkeit, wie sie die homerischen Ge- dichte überall zeigen, ist diese Abschwächung des Glaubens an einem einzelnen Puncte nicht überraschend. Es tritt aber auch hier, wie bei einer Betrachtung des homerischen Seelenglaubens überall, hervor, dass die Vorstellung von Machtlosigkeit und schattenhafter Schwäche der Seelen nicht die ursprüngliche ist, sondern einer älteren, die den Seelen dauerndes Bewusstsein und Einfluss auf die Zustände unter den Lebendigen zutraut, erst im Laufe der Zeit sich untergeschoben hat. Von jener älteren Vorstellung giebt die auch noch im homerischen Griechenland unvergessene Verpflichtung zur Blutrache nach- drücklich Zeugniss. In späterer Zeit ist die Verfolgung und Bestrafung des Todtschlags nach wesentlich anderen Grundsätzen geordnet. Der Staat erkannte sein Interesse an der Ahndung des Friedensbruches an; wir dürfen annehmen, dass in griechischen Städten überall der Staat in seinen Gerichtshöfen an der ge- regelten Untersuchung und Bestrafung des Mordes sich be- theiligte 1). Deutlicheren Einblick haben wir auch hier nur in 3) 1) Wir wissen sehr wenig Einzelnes hiervon. In Sparta οἱ γέροντες (δικάζουσι) τἀς φονικὰς (δίκας) Aristot. Polit. 3, 1 p. 1275b, 10 (ebenso in Korinth: Diod. 16, 65, 6 ff.). Auf unfreiwilligem Todtschlag stand Ver- bannung, und zwar (strenger als in Athen), wie es scheint, auf immer. Der Spartiate Drakontios, im Heere der Zehntausend dienend, ἔφυγε παῖς ὢν οἴκοϑεν παῖδα ἄκων κατακανὼν (also wie Patroklos, Il. 23) ξυήλῃ πατάξας. Xen. Anab. 4, 8, 25. Zeitweilige Verbannung musste längst abgelaufen sein. — In Kyme Spuren von gerichtlicher Verfolgung des Mordes (mit Zeugen): Aristot. Pol. 2, 8, p. 1269 a, 1 ff. — In Chalkis ἐπὶ Θράκῃ galten Gesetze des Androdamas aus Rhegion περί τε τὰ φονικὰ καὶ τὰς ἐπικλήρους, Aristot. Polit. 2, 12, p. 1274 b, 23 ff. — In Lokri Gesetze 3) die Abfindung des lebenden Rächers gedacht. — Auf keinen Fall ist in der Möglichkeit, Blutrache abzukaufen, die Folge einer Milderung alter Wildheit der Rache durch den Staat zu erkennen. Der Staat hat hier nichts gemildert, denn er kümmert sich bei Homer überhaupt um die Behandlung von Mordfällen gar nicht. Ob die stipulirte ποινή entrichtet worden ist oder nicht, darüber kann ein Gericht stattfinden (Il. 18, 497 ff.), so gut wie über jedes συμβόλαιον; die Verfolgung der Mörder und ihre Modalitäten bleiben völlig der Familie des Ermordeten über- lassen.

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/255>, abgerufen am 28.11.2024.