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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894.

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vorbedachten Mordes, unfreiwilliger oder gar gerechtfertigter
Tödtung hört man nichts1), und es wurde vermuthlich, da
damals noch keine geordnete Untersuchung die besondere Art
des vorliegenden Falles feststellte, die Verschiedenheit der
einzelnen Arten des Todtschlages von den Verwandten des Er-
schlagenen gar nicht beachtet. Kann sich der Mörder den zur
Blutrache Berufenen durch die Flucht entziehen, so können
diese ihrerseits auf die rächende Vergeltung, die eigentlich den
Tod des Mörders forderte, verzichten, indem sie sich durch eine
Busse, die der Thäter erlegt, abfinden lassen, und dieser bleibt
dann ungestört daheim2). Es besteht also im Grundsatz die
Forderung der Blutrache, aber der vergeltende Mord des
Mörders kann abgekauft werden. Diese starke Abschwächung
des alten Blutrachegedankens kann nur entsprungen sein aus
ebenso starker Abschwächung des Glaubens an fortdauerndes
Bewusstsein, Macht und Recht der abgeschiedenen Seele des
Ermordeten, auf dem eben die Blutracheforderung begründet
war. Die Seele des Todten ist machtlos, ihre Ansprüche sind
leicht abzufinden mit einem Wergelde, das den Lebenden ent-
richtet wird. Im Grunde ist die abgeschiedene Seele bei
dieser Abfindung gar nicht mehr betheiligt, es bleibt nur ein
Geschäft unter Lebenden3). Bei der Verflüchtigung des Seelen-

1) Flucht und zwar aeiphugia, wegen phonos akousios: Il. 23, 85 ff. (der
Fliehende wird therapon des ihn in der Fremde Aufnehmenden: v. 90;
vgl. 15, 431 f.; das wird die Regel gewesen sein). -- Flucht wegen phonos
ekousios (lokhesamenos 268) Od. 13, 259 ff. Und so öfter.
2) Il. 9, 632 ff.: kai men tis te kasignetoio phoneos poinen e ou paidos
edexato tethneotos ; kai R o men en demo menei autou poll apotisas, tou de
t eretuetai kradie kai thumos agenor poinen dexamenou. Hier ist sehr
deutlich ausgesprochen, dass es nur darauf ankommt, des Empfängers der
poine "Herz und Gemüth" zu beschwichtigen; von dem Erschlagenen ist
nicht die Rede.
3) Sehr wohl denkbar ist, dass die poine (wie K. O. Müller, Aesch.
Eum.
145 andeutet) entstanden sein möge aus einer Substituirung eines
stellvertretenden Opferthieres an Stelle des eigentlich dem Todten als
Opfer verfallenen Mörders: wie so vielfach alte Menschenopfer durch
Thieropfer ersetzt worden sind. Dann gieng ursprünglich auch die poine
noch den Ermordeten an. Aber in homerischer Zeit wird nur noch an

vorbedachten Mordes, unfreiwilliger oder gar gerechtfertigter
Tödtung hört man nichts1), und es wurde vermuthlich, da
damals noch keine geordnete Untersuchung die besondere Art
des vorliegenden Falles feststellte, die Verschiedenheit der
einzelnen Arten des Todtschlages von den Verwandten des Er-
schlagenen gar nicht beachtet. Kann sich der Mörder den zur
Blutrache Berufenen durch die Flucht entziehen, so können
diese ihrerseits auf die rächende Vergeltung, die eigentlich den
Tod des Mörders forderte, verzichten, indem sie sich durch eine
Busse, die der Thäter erlegt, abfinden lassen, und dieser bleibt
dann ungestört daheim2). Es besteht also im Grundsatz die
Forderung der Blutrache, aber der vergeltende Mord des
Mörders kann abgekauft werden. Diese starke Abschwächung
des alten Blutrachegedankens kann nur entsprungen sein aus
ebenso starker Abschwächung des Glaubens an fortdauerndes
Bewusstsein, Macht und Recht der abgeschiedenen Seele des
Ermordeten, auf dem eben die Blutracheforderung begründet
war. Die Seele des Todten ist machtlos, ihre Ansprüche sind
leicht abzufinden mit einem Wergelde, das den Lebenden ent-
richtet wird. Im Grunde ist die abgeschiedene Seele bei
dieser Abfindung gar nicht mehr betheiligt, es bleibt nur ein
Geschäft unter Lebenden3). Bei der Verflüchtigung des Seelen-

1) Flucht und zwar ἀειφυγία, wegen φόνος ἀκούσιος: Il. 23, 85 ff. (der
Fliehende wird ϑεράπων des ihn in der Fremde Aufnehmenden: v. 90;
vgl. 15, 431 f.; das wird die Regel gewesen sein). — Flucht wegen φόνος
ἑκούσιος (λοχησάμενος 268) Od. 13, 259 ff. Und so öfter.
2) Il. 9, 632 ff.: καὶ μέν τίς τε κασιγνήτοιο φονῆος ποινὴν ἢ οὗ παιδὸς
ἐδέξατο τεϑνηῶτος · καί ῥ̕ ὁ μὲν ἐν δήμῳ μένει αὐτοῦ πόλλ̕ ἀποτίσας, τοῦ δὲ
τ̕ ἐρητύεται κραδίη καί ϑυμὸς ἀγήνωρ ποινὴν δεξαμένου. Hier ist sehr
deutlich ausgesprochen, dass es nur darauf ankommt, des Empfängers der
ποινή „Herz und Gemüth“ zu beschwichtigen; von dem Erschlagenen ist
nicht die Rede.
3) Sehr wohl denkbar ist, dass die ποινή (wie K. O. Müller, Aesch.
Eum.
145 andeutet) entstanden sein möge aus einer Substituirung eines
stellvertretenden Opferthieres an Stelle des eigentlich dem Todten als
Opfer verfallenen Mörders: wie so vielfach alte Menschenopfer durch
Thieropfer ersetzt worden sind. Dann gieng ursprünglich auch die ποινή
noch den Ermordeten an. Aber in homerischer Zeit wird nur noch an
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[238/0254] vorbedachten Mordes, unfreiwilliger oder gar gerechtfertigter Tödtung hört man nichts 1), und es wurde vermuthlich, da damals noch keine geordnete Untersuchung die besondere Art des vorliegenden Falles feststellte, die Verschiedenheit der einzelnen Arten des Todtschlages von den Verwandten des Er- schlagenen gar nicht beachtet. Kann sich der Mörder den zur Blutrache Berufenen durch die Flucht entziehen, so können diese ihrerseits auf die rächende Vergeltung, die eigentlich den Tod des Mörders forderte, verzichten, indem sie sich durch eine Busse, die der Thäter erlegt, abfinden lassen, und dieser bleibt dann ungestört daheim 2). Es besteht also im Grundsatz die Forderung der Blutrache, aber der vergeltende Mord des Mörders kann abgekauft werden. Diese starke Abschwächung des alten Blutrachegedankens kann nur entsprungen sein aus ebenso starker Abschwächung des Glaubens an fortdauerndes Bewusstsein, Macht und Recht der abgeschiedenen Seele des Ermordeten, auf dem eben die Blutracheforderung begründet war. Die Seele des Todten ist machtlos, ihre Ansprüche sind leicht abzufinden mit einem Wergelde, das den Lebenden ent- richtet wird. Im Grunde ist die abgeschiedene Seele bei dieser Abfindung gar nicht mehr betheiligt, es bleibt nur ein Geschäft unter Lebenden 3). Bei der Verflüchtigung des Seelen- 1) Flucht und zwar ἀειφυγία, wegen φόνος ἀκούσιος: Il. 23, 85 ff. (der Fliehende wird ϑεράπων des ihn in der Fremde Aufnehmenden: v. 90; vgl. 15, 431 f.; das wird die Regel gewesen sein). — Flucht wegen φόνος ἑκούσιος (λοχησάμενος 268) Od. 13, 259 ff. Und so öfter. 2) Il. 9, 632 ff.: καὶ μέν τίς τε κασιγνήτοιο φονῆος ποινὴν ἢ οὗ παιδὸς ἐδέξατο τεϑνηῶτος · καί ῥ̕ ὁ μὲν ἐν δήμῳ μένει αὐτοῦ πόλλ̕ ἀποτίσας, τοῦ δὲ τ̕ ἐρητύεται κραδίη καί ϑυμὸς ἀγήνωρ ποινὴν δεξαμένου. Hier ist sehr deutlich ausgesprochen, dass es nur darauf ankommt, des Empfängers der ποινή „Herz und Gemüth“ zu beschwichtigen; von dem Erschlagenen ist nicht die Rede. 3) Sehr wohl denkbar ist, dass die ποινή (wie K. O. Müller, Aesch. Eum. 145 andeutet) entstanden sein möge aus einer Substituirung eines stellvertretenden Opferthieres an Stelle des eigentlich dem Todten als Opfer verfallenen Mörders: wie so vielfach alte Menschenopfer durch Thieropfer ersetzt worden sind. Dann gieng ursprünglich auch die ποινή noch den Ermordeten an. Aber in homerischer Zeit wird nur noch an

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Zitationshilfe: Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/254>, abgerufen am 24.11.2024.