Menschen wandeln im Dienste des Zeus unsichtbar über die Erde, Recht und Frevel beachtend (W. u. T. 252 ff.). Die Vorstellung ist ihm aus sittlichen Gründen wichtig; will er sich auf sie stützen, so darf er sie nicht selbst beliebig erdichtet haben; und in der That hat dieser ernsthafte Poet nichts er- dichtet, was in den Bereich des Glaubens, des Cultus, auch der niederen Superstition fällt. Die böotische Dichterschule, der er angehört, steht der erfindsamen Freiheit schweifender Phantasie, mit der die homerische Dichtung "viele Lügen vor- zubringen weiss, so dass sie wie Wahrheit erscheinen" (Theog. 27) fern, ja feindlich gegenüber. Wie sie nicht frei ergötzen, sondern in irgend einem Sinne stets belehren will, so erfindet sie selbst im Gebiete des rein Mythischen nichts, sondern sie ordnet und verbindet oder registrirt auch nur, was sie als Ueberlieferung vorfindet. Im Religiösen vollends liegt ihr alle Erfindung fern, wiewohl keineswegs selbständige Speculation über das Ueber- lieferte. Was also Hesiod von Menschen der Vorzeit erzählt, deren Seelen nach dem Tode zu "Dämonen" geworden seien, ist ihm aus der Ueberlieferung zugekommen. Man könnte immer noch sagen: diese Vorstellung mag älter sein als Hesiod, sie kann aber darum doch jünger als Homer und das Ergebniss nach- homerischer Speculation sein. Es ist nicht nöthig, die Gründe, welche eine solche Annahme unhaltbar machen, zu entwickeln. Denn wir dürfen nach dem Verlauf unserer bisherigen Betrach- tung mit aller Bestimmtheit behaupten, dass in dem, was Hesiod hier berichtet, sich ein Stück uralten, weit über Homers Ge- dichte hinaufreichenden Glaubens in dem weltfernen böotischen Bauernlande erhalten hat. Wir haben ja aus Homers Gedichten selbst Rudimente des Seelencultes genug hervorgezogen, die uns anzunehmen zwangen, dass einst, in ferner Vorzeit, die Griechen, gleich den meisten anderen Völkern, an ein bewusstes, machtvoll auf die Menschenwelt einwirkendes Weiterleben der vom Leibe getrennten Psyche geglaubt, und aus diesem Glauben heraus den abgeschiedenen Seelen Verehrung von mancherlei Art gewidmet haben. In Hesiods Bericht haben wir lediglich
Menschen wandeln im Dienste des Zeus unsichtbar über die Erde, Recht und Frevel beachtend (W. u. T. 252 ff.). Die Vorstellung ist ihm aus sittlichen Gründen wichtig; will er sich auf sie stützen, so darf er sie nicht selbst beliebig erdichtet haben; und in der That hat dieser ernsthafte Poet nichts er- dichtet, was in den Bereich des Glaubens, des Cultus, auch der niederen Superstition fällt. Die böotische Dichterschule, der er angehört, steht der erfindsamen Freiheit schweifender Phantasie, mit der die homerische Dichtung „viele Lügen vor- zubringen weiss, so dass sie wie Wahrheit erscheinen“ (Theog. 27) fern, ja feindlich gegenüber. Wie sie nicht frei ergötzen, sondern in irgend einem Sinne stets belehren will, so erfindet sie selbst im Gebiete des rein Mythischen nichts, sondern sie ordnet und verbindet oder registrirt auch nur, was sie als Ueberlieferung vorfindet. Im Religiösen vollends liegt ihr alle Erfindung fern, wiewohl keineswegs selbständige Speculation über das Ueber- lieferte. Was also Hesiod von Menschen der Vorzeit erzählt, deren Seelen nach dem Tode zu „Dämonen“ geworden seien, ist ihm aus der Ueberlieferung zugekommen. Man könnte immer noch sagen: diese Vorstellung mag älter sein als Hesiod, sie kann aber darum doch jünger als Homer und das Ergebniss nach- homerischer Speculation sein. Es ist nicht nöthig, die Gründe, welche eine solche Annahme unhaltbar machen, zu entwickeln. Denn wir dürfen nach dem Verlauf unserer bisherigen Betrach- tung mit aller Bestimmtheit behaupten, dass in dem, was Hesiod hier berichtet, sich ein Stück uralten, weit über Homers Ge- dichte hinaufreichenden Glaubens in dem weltfernen böotischen Bauernlande erhalten hat. Wir haben ja aus Homers Gedichten selbst Rudimente des Seelencultes genug hervorgezogen, die uns anzunehmen zwangen, dass einst, in ferner Vorzeit, die Griechen, gleich den meisten anderen Völkern, an ein bewusstes, machtvoll auf die Menschenwelt einwirkendes Weiterleben der vom Leibe getrennten Psyche geglaubt, und aus diesem Glauben heraus den abgeschiedenen Seelen Verehrung von mancherlei Art gewidmet haben. In Hesiods Bericht haben wir lediglich
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Menschen wandeln im Dienste des Zeus unsichtbar über die
Erde, Recht und Frevel beachtend (W. u. T. 252 ff.). Die
Vorstellung ist ihm aus sittlichen Gründen wichtig; will er sich
auf sie stützen, so darf er sie nicht selbst beliebig erdichtet
haben; und in der That hat dieser ernsthafte Poet nichts er-
dichtet, was in den Bereich des Glaubens, des Cultus, auch
der niederen Superstition fällt. Die böotische Dichterschule,
der er angehört, steht der erfindsamen Freiheit schweifender
Phantasie, mit der die homerische Dichtung „viele Lügen vor-
zubringen weiss, so dass sie wie Wahrheit erscheinen“ (Theog. 27)
fern, ja feindlich gegenüber. Wie sie nicht frei ergötzen, sondern
in irgend einem Sinne stets belehren will, so erfindet sie selbst
im Gebiete des rein Mythischen nichts, sondern sie ordnet und
verbindet oder registrirt auch nur, was sie als Ueberlieferung
vorfindet. Im Religiösen vollends liegt ihr alle Erfindung fern,
wiewohl keineswegs selbständige Speculation über das Ueber-
lieferte. Was also Hesiod von Menschen der Vorzeit erzählt,
deren Seelen nach dem Tode zu „Dämonen“ geworden seien,
ist ihm aus der Ueberlieferung zugekommen. Man könnte immer
noch sagen: diese Vorstellung mag älter sein als Hesiod, sie kann
aber darum doch jünger als Homer und das Ergebniss nach-
homerischer Speculation sein. Es ist nicht nöthig, die Gründe,
welche eine solche Annahme unhaltbar machen, zu entwickeln.
Denn wir dürfen nach dem Verlauf unserer bisherigen Betrach-
tung mit aller Bestimmtheit behaupten, dass in dem, was Hesiod
hier berichtet, sich ein Stück uralten, weit über Homers Ge-
dichte hinaufreichenden Glaubens in dem weltfernen böotischen
Bauernlande erhalten hat. Wir haben ja aus Homers Gedichten
selbst Rudimente des Seelencultes genug hervorgezogen, die
uns anzunehmen zwangen, dass einst, in ferner Vorzeit, die
Griechen, gleich den meisten anderen Völkern, an ein bewusstes,
machtvoll auf die Menschenwelt einwirkendes Weiterleben der
vom Leibe getrennten Psyche geglaubt, und aus diesem Glauben
heraus den abgeschiedenen Seelen Verehrung von mancherlei
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Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg u. a., 1894, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rohde_psyche_1894/108>, abgerufen am 23.11.2024.
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