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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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hat, und dass die Formen, in welchen uns die einzelnen
antiken Mythen lieb und vertraut sind, die Karakterbilder,
in denen die einzelnen Gestalten der griechischen Heldensage
für uns typisch geworden sind, keineswegs in allen Epochen
des klassischen Altertums gegolten haben, dass vielmehr in be-
stimmter Zeit ein bestimmter Dichter diese Sage in diese Form
gegossen, jenem Heros jene Karakterzüge verliehen hat. Der
uns geläufige Gesamtschatz antiker Mythen geht auf sehr ver-
schiedene Zeiten zurück: die troischen Mythen, soweit sie die
Kämpfe um Ilion selbst angehen, sind uns in der altehrwürdigen
Form vertraut, in welcher der Heldensang der kleinasiatischen
Colonien sie zuerst dichterisch fixiert hat, aber einzelne Züge,
namentlich aus der Vorgeschichte, wie der Apfel der Eris beim
Parisurteil oder die Unverwundbarkeit des Achilleus, entstammen
einer viel späteren Periode; sie gehören der alexandrinischen, viel-
leicht sogar erst der römischen Sagenbildung an. Die Sage vom
Schicksal des Orestes, die Mythen von Andromeda, Medeia, Iphi-
geneia kennen wir in der Form, die ihnen das attische Drama des
fünften Jahrhunderts, die Argonautensage in derjenigen, welche ihr
ein alexandrinischer Dichter des dritten Jahrhunderts gegeben hat;
und den Zug der Sieben gegen Theben lernen wir sogar einzig in
der aus sehr heterogenen Elementen kompilierten Form kennen,
welche in den mythologischen Handbüchern der römischen Kaiser-
zeit stand. Wir vergessen das zu leicht; es ist gut, sich zu-
weilen ins Gedächtniss zu rufen, dass dem Griechen vor Euripides
die Medeia keineswegs das war, was sie uns ist, dass ihm bei
diesem Namen nicht das Bild der düsteren grauenhaften Zauberin
aus Kolchis, des leidenschaftlichen Weibes, der Mörderin ihrer
eigenen Kinder aufstieg, sondern dass sie ihm die hohe Sprossin
und berechtigte Erbin des alten ehrwürdigen Königsgeschlechts
von Korinth war, die Enkelin des Sonnengottes. So ist den Griechen
dieselbe Sage in anderer Fassung zur Zeit des Peisistratos, in
anderer zur Zeit des Perikles, in anderer zur Zeit der römischen
Herrschaft lieb und wert. Ich will hier nicht untersuchen,
welche Berechtigung der fromme Glaube hat, dass in einigen
Thälern der Peloponnes sich die alte Volkssage in ursprünglicher

hat, und daſs die Formen, in welchen uns die einzelnen
antiken Mythen lieb und vertraut sind, die Karakterbilder,
in denen die einzelnen Gestalten der griechischen Heldensage
für uns typisch geworden sind, keineswegs in allen Epochen
des klassischen Altertums gegolten haben, daſs vielmehr in be-
stimmter Zeit ein bestimmter Dichter diese Sage in diese Form
gegossen, jenem Heros jene Karakterzüge verliehen hat. Der
uns geläufige Gesamtschatz antiker Mythen geht auf sehr ver-
schiedene Zeiten zurück: die troischen Mythen, soweit sie die
Kämpfe um Ilion selbst angehen, sind uns in der altehrwürdigen
Form vertraut, in welcher der Heldensang der kleinasiatischen
Colonien sie zuerst dichterisch fixiert hat, aber einzelne Züge,
namentlich aus der Vorgeschichte, wie der Apfel der Eris beim
Parisurteil oder die Unverwundbarkeit des Achilleus, entstammen
einer viel späteren Periode; sie gehören der alexandrinischen, viel-
leicht sogar erst der römischen Sagenbildung an. Die Sage vom
Schicksal des Orestes, die Mythen von Andromeda, Medeia, Iphi-
geneia kennen wir in der Form, die ihnen das attische Drama des
fünften Jahrhunderts, die Argonautensage in derjenigen, welche ihr
ein alexandrinischer Dichter des dritten Jahrhunderts gegeben hat;
und den Zug der Sieben gegen Theben lernen wir sogar einzig in
der aus sehr heterogenen Elementen kompilierten Form kennen,
welche in den mythologischen Handbüchern der römischen Kaiser-
zeit stand. Wir vergessen das zu leicht; es ist gut, sich zu-
weilen ins Gedächtniss zu rufen, daſs dem Griechen vor Euripides
die Medeia keineswegs das war, was sie uns ist, daſs ihm bei
diesem Namen nicht das Bild der düsteren grauenhaften Zauberin
aus Kolchis, des leidenschaftlichen Weibes, der Mörderin ihrer
eigenen Kinder aufstieg, sondern daſs sie ihm die hohe Sprossin
und berechtigte Erbin des alten ehrwürdigen Königsgeschlechts
von Korinth war, die Enkelin des Sonnengottes. So ist den Griechen
dieselbe Sage in anderer Fassung zur Zeit des Peisistratos, in
anderer zur Zeit des Perikles, in anderer zur Zeit der römischen
Herrschaft lieb und wert. Ich will hier nicht untersuchen,
welche Berechtigung der fromme Glaube hat, daſs in einigen
Thälern der Peloponnes sich die alte Volkssage in ursprünglicher

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[9/0023] hat, und daſs die Formen, in welchen uns die einzelnen antiken Mythen lieb und vertraut sind, die Karakterbilder, in denen die einzelnen Gestalten der griechischen Heldensage für uns typisch geworden sind, keineswegs in allen Epochen des klassischen Altertums gegolten haben, daſs vielmehr in be- stimmter Zeit ein bestimmter Dichter diese Sage in diese Form gegossen, jenem Heros jene Karakterzüge verliehen hat. Der uns geläufige Gesamtschatz antiker Mythen geht auf sehr ver- schiedene Zeiten zurück: die troischen Mythen, soweit sie die Kämpfe um Ilion selbst angehen, sind uns in der altehrwürdigen Form vertraut, in welcher der Heldensang der kleinasiatischen Colonien sie zuerst dichterisch fixiert hat, aber einzelne Züge, namentlich aus der Vorgeschichte, wie der Apfel der Eris beim Parisurteil oder die Unverwundbarkeit des Achilleus, entstammen einer viel späteren Periode; sie gehören der alexandrinischen, viel- leicht sogar erst der römischen Sagenbildung an. Die Sage vom Schicksal des Orestes, die Mythen von Andromeda, Medeia, Iphi- geneia kennen wir in der Form, die ihnen das attische Drama des fünften Jahrhunderts, die Argonautensage in derjenigen, welche ihr ein alexandrinischer Dichter des dritten Jahrhunderts gegeben hat; und den Zug der Sieben gegen Theben lernen wir sogar einzig in der aus sehr heterogenen Elementen kompilierten Form kennen, welche in den mythologischen Handbüchern der römischen Kaiser- zeit stand. Wir vergessen das zu leicht; es ist gut, sich zu- weilen ins Gedächtniss zu rufen, daſs dem Griechen vor Euripides die Medeia keineswegs das war, was sie uns ist, daſs ihm bei diesem Namen nicht das Bild der düsteren grauenhaften Zauberin aus Kolchis, des leidenschaftlichen Weibes, der Mörderin ihrer eigenen Kinder aufstieg, sondern daſs sie ihm die hohe Sprossin und berechtigte Erbin des alten ehrwürdigen Königsgeschlechts von Korinth war, die Enkelin des Sonnengottes. So ist den Griechen dieselbe Sage in anderer Fassung zur Zeit des Peisistratos, in anderer zur Zeit des Perikles, in anderer zur Zeit der römischen Herrschaft lieb und wert. Ich will hier nicht untersuchen, welche Berechtigung der fromme Glaube hat, daſs in einigen Thälern der Peloponnes sich die alte Volkssage in ursprünglicher

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/23>, abgerufen am 29.03.2024.