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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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festzuhalten, so lange festzuhalten, bis ein grösserer naht, der
das alte Bild verdrängt und sein eigenes an dessen Stelle setzt.

Auch die Sage, wie sie im Volksbewusstsein lebt, hat ihre
Entwickelung und ihre Geschichte. So fest sie auch in den
verborgensten Tiefen des Volkslebens zu wurzeln scheint, so alt
und ehrwürdig sie uns oft entgegentritt, gleich als ob die Jahr-
hunderte, die Staaten umwälzen und die Weltanschauung ver-
wandeln, nur sie gänzlich unberührt gelassen hätten, als ob sie
dieselbe sei zur Zeit Cäsars, die sie in den Tagen des Perikles
war, auch die Sage befindet sich in ewigem Fluss, und die beiden
mächtigen Faktoren der Kulturentwickelung, die aus der Sage
ihre erste, kräftigste, gesundeste Nahrung ziehen, Bild und Lied,
üben auf das Volksbewusstsein einen viel gewaltigeren Rückschlag
aus, als man in der Regel erkennen und zugeben will. Eine
wirklich schöpferische Dichterkraft setzt die Form, welche sie der
Sage giebt, an Stelle der lokalen Tradition; die dichterische Um-
bildung des Stoffes wird selbst zur Volksvorstellung, und es ent-
wickelt sich an Stelle der Volkstradition eine noch viel mächtigere
poetische Tradition. Unserer Zeit, in der keine Volkssage mehr
wahrhaft lebendig ist, fällt es schwer, eine klare Vorstellung von
diesem Vorgang zu gewinnen. Vergleichen liesse sich etwa die
Art, wie die von unsern grossen dramatischen Dichtern behandel-
ten historischen Stoffe und historischen Persönlichkeiten in unserer
Volksvorstellung leben. Auch hier hat die Allgewalt der dich-
terischen Gestaltung sowohl die historische Wahrheit wie die
volkstümliche Legende verdrängt; bei den Namen Wallenstein
und Egmont denkt gewiss weitaus der grösste Teil unseres
Volkes an die Gestalten unserer Dichter und überträgt die Züge
derselben unwillkürlich auf die historischen Persönlichkeiten.

Je allmählicher sich dieser Prozess in der Volksvorstellung
vollzieht, um so stärker und nachhaltiger ist seine Wirkung.
Eine mehr als tausendjährige Entwickelung ist es, welche die
Heldensage der Hellenen auf diese Weise durchgemacht hat, und
wenn wir auch diese Entwickelung nur bei einigen wenigen
Mythen beobachten und verfolgen können, so dürfen wir doch
nie vergessen, dass sie bei allen antiken Sagen stattgefunden

festzuhalten, so lange festzuhalten, bis ein gröſserer naht, der
das alte Bild verdrängt und sein eigenes an dessen Stelle setzt.

Auch die Sage, wie sie im Volksbewuſstsein lebt, hat ihre
Entwickelung und ihre Geschichte. So fest sie auch in den
verborgensten Tiefen des Volkslebens zu wurzeln scheint, so alt
und ehrwürdig sie uns oft entgegentritt, gleich als ob die Jahr-
hunderte, die Staaten umwälzen und die Weltanschauung ver-
wandeln, nur sie gänzlich unberührt gelassen hätten, als ob sie
dieselbe sei zur Zeit Cäsars, die sie in den Tagen des Perikles
war, auch die Sage befindet sich in ewigem Fluſs, und die beiden
mächtigen Faktoren der Kulturentwickelung, die aus der Sage
ihre erste, kräftigste, gesundeste Nahrung ziehen, Bild und Lied,
üben auf das Volksbewuſstsein einen viel gewaltigeren Rückschlag
aus, als man in der Regel erkennen und zugeben will. Eine
wirklich schöpferische Dichterkraft setzt die Form, welche sie der
Sage giebt, an Stelle der lokalen Tradition; die dichterische Um-
bildung des Stoffes wird selbst zur Volksvorstellung, und es ent-
wickelt sich an Stelle der Volkstradition eine noch viel mächtigere
poetische Tradition. Unserer Zeit, in der keine Volkssage mehr
wahrhaft lebendig ist, fällt es schwer, eine klare Vorstellung von
diesem Vorgang zu gewinnen. Vergleichen lieſse sich etwa die
Art, wie die von unsern groſsen dramatischen Dichtern behandel-
ten historischen Stoffe und historischen Persönlichkeiten in unserer
Volksvorstellung leben. Auch hier hat die Allgewalt der dich-
terischen Gestaltung sowohl die historische Wahrheit wie die
volkstümliche Legende verdrängt; bei den Namen Wallenstein
und Egmont denkt gewiſs weitaus der gröſste Teil unseres
Volkes an die Gestalten unserer Dichter und überträgt die Züge
derselben unwillkürlich auf die historischen Persönlichkeiten.

Je allmählicher sich dieser Prozess in der Volksvorstellung
vollzieht, um so stärker und nachhaltiger ist seine Wirkung.
Eine mehr als tausendjährige Entwickelung ist es, welche die
Heldensage der Hellenen auf diese Weise durchgemacht hat, und
wenn wir auch diese Entwickelung nur bei einigen wenigen
Mythen beobachten und verfolgen können, so dürfen wir doch
nie vergessen, daſs sie bei allen antiken Sagen stattgefunden

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[8/0022] festzuhalten, so lange festzuhalten, bis ein gröſserer naht, der das alte Bild verdrängt und sein eigenes an dessen Stelle setzt. Auch die Sage, wie sie im Volksbewuſstsein lebt, hat ihre Entwickelung und ihre Geschichte. So fest sie auch in den verborgensten Tiefen des Volkslebens zu wurzeln scheint, so alt und ehrwürdig sie uns oft entgegentritt, gleich als ob die Jahr- hunderte, die Staaten umwälzen und die Weltanschauung ver- wandeln, nur sie gänzlich unberührt gelassen hätten, als ob sie dieselbe sei zur Zeit Cäsars, die sie in den Tagen des Perikles war, auch die Sage befindet sich in ewigem Fluſs, und die beiden mächtigen Faktoren der Kulturentwickelung, die aus der Sage ihre erste, kräftigste, gesundeste Nahrung ziehen, Bild und Lied, üben auf das Volksbewuſstsein einen viel gewaltigeren Rückschlag aus, als man in der Regel erkennen und zugeben will. Eine wirklich schöpferische Dichterkraft setzt die Form, welche sie der Sage giebt, an Stelle der lokalen Tradition; die dichterische Um- bildung des Stoffes wird selbst zur Volksvorstellung, und es ent- wickelt sich an Stelle der Volkstradition eine noch viel mächtigere poetische Tradition. Unserer Zeit, in der keine Volkssage mehr wahrhaft lebendig ist, fällt es schwer, eine klare Vorstellung von diesem Vorgang zu gewinnen. Vergleichen lieſse sich etwa die Art, wie die von unsern groſsen dramatischen Dichtern behandel- ten historischen Stoffe und historischen Persönlichkeiten in unserer Volksvorstellung leben. Auch hier hat die Allgewalt der dich- terischen Gestaltung sowohl die historische Wahrheit wie die volkstümliche Legende verdrängt; bei den Namen Wallenstein und Egmont denkt gewiſs weitaus der gröſste Teil unseres Volkes an die Gestalten unserer Dichter und überträgt die Züge derselben unwillkürlich auf die historischen Persönlichkeiten. Je allmählicher sich dieser Prozess in der Volksvorstellung vollzieht, um so stärker und nachhaltiger ist seine Wirkung. Eine mehr als tausendjährige Entwickelung ist es, welche die Heldensage der Hellenen auf diese Weise durchgemacht hat, und wenn wir auch diese Entwickelung nur bei einigen wenigen Mythen beobachten und verfolgen können, so dürfen wir doch nie vergessen, daſs sie bei allen antiken Sagen stattgefunden

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/22>, abgerufen am 22.11.2024.