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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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zusammennehmen müssen26): in der Grabthüre stand der Schatten
des Agamemnon; auf und um den Grabhügel gelagert schliefen
die drei Erinyen, in ihrer Mitte lag das Beil, als ob sie es be-
wachten.

An dieser Stelle muss auch der kleinen Berliner Kylix G
gedacht werden. Klytaimnestra, das Beil in der Hand, eilt in
grosser Aufregung auf eine Thüre zu -- die Thüre zu dem Bade-
gemach, in dem Agamemnon weilt. Am Beil erkannte jeder
antike Beschauer die Klytaimnestra, an ihrer wilden Bewegung,
dass sie im Begriffe stehe, das Verbrechen zu begehen; die
richtige Deutung gab schon Millin; wenn Jahn an Merope,
denkt, so kann ich ihm darin hier so wenig wie bei F beistimmen
schon darum nicht, weil die Mythen der Herakliden in der Kunst
wohl überhaupt nicht und in der Poesie erst vom Drama behandelt
worden sind, und eine Einwirkung der Tragödie auf die Kunst
und das Kunsthandwerk im 5. Jahrh. nach dem früher Bemerkten
(Kap. IV) weder nachweisbar noch wahrscheinlich ist. Der attische
Vasenmaler befolgte bewusst oder unbewusst die Version des
Stesichoros.

Wenn wir die bisher einzeln als stesichoreisch erkannten Züge
zusammenfassen, so würde sich als Inhalt der stesichoreischen
Oresteia etwa das Folgende ergeben, das ich in der Form einer
Hypothesis hersetzen will, wobei ich für jeden einzelnen Zug
die Quelle beifüge.

Klytaimnestra hat Agamemnon mit einem Beile erschlagen
(G, Aischylos, Sophokles); den kleinen Orestes hat seine Amme
Laodameia den treuen Händen des Talthybios übergeben (fr. 41.
Nicol. Damasc., Dictys, Sophokles, vielleicht Pindar), der ihn flüchtet
(ob auch hier nach Phokis wegen Apollons?). Zehn Jahre sind ver-
gangen, da träumt Klytaimnestra, dass ein Drache mit blutigem Haupt
sich ihr nahe, aber auf einmal ist's kein Drache mehr, sondern
ihr gemordeter Gatte, der sich aufs Neue ihr vermählt; sie gebiert
einen Drachen, aber als sie ihm die Brust reicht, trinkt er Blut

26) Dies deutet auch Michaelis a. a. O. S. 108 an, ohne sich jedoch be-
stimmt zu entscheiden.

zusammennehmen müssen26): in der Grabthüre stand der Schatten
des Agamemnon; auf und um den Grabhügel gelagert schliefen
die drei Erinyen, in ihrer Mitte lag das Beil, als ob sie es be-
wachten.

An dieser Stelle muſs auch der kleinen Berliner Kylix G
gedacht werden. Klytaimnestra, das Beil in der Hand, eilt in
groſser Aufregung auf eine Thüre zu — die Thüre zu dem Bade-
gemach, in dem Agamemnon weilt. Am Beil erkannte jeder
antike Beschauer die Klytaimnestra, an ihrer wilden Bewegung,
daſs sie im Begriffe stehe, das Verbrechen zu begehen; die
richtige Deutung gab schon Millin; wenn Jahn an Merope,
denkt, so kann ich ihm darin hier so wenig wie bei F beistimmen
schon darum nicht, weil die Mythen der Herakliden in der Kunst
wohl überhaupt nicht und in der Poesie erst vom Drama behandelt
worden sind, und eine Einwirkung der Tragödie auf die Kunst
und das Kunsthandwerk im 5. Jahrh. nach dem früher Bemerkten
(Kap. IV) weder nachweisbar noch wahrscheinlich ist. Der attische
Vasenmaler befolgte bewuſst oder unbewuſst die Version des
Stesichoros.

Wenn wir die bisher einzeln als stesichoreisch erkannten Züge
zusammenfassen, so würde sich als Inhalt der stesichoreischen
Oresteia etwa das Folgende ergeben, das ich in der Form einer
Hypothesis hersetzen will, wobei ich für jeden einzelnen Zug
die Quelle beifüge.

Klytaimnestra hat Agamemnon mit einem Beile erschlagen
(G, Aischylos, Sophokles); den kleinen Orestes hat seine Amme
Laodameia den treuen Händen des Talthybios übergeben (fr. 41.
Nicol. Damasc., Dictys, Sophokles, vielleicht Pindar), der ihn flüchtet
(ob auch hier nach Phokis wegen Apollons?). Zehn Jahre sind ver-
gangen, da träumt Klytaimnestra, daſs ein Drache mit blutigem Haupt
sich ihr nahe, aber auf einmal ist’s kein Drache mehr, sondern
ihr gemordeter Gatte, der sich aufs Neue ihr vermählt; sie gebiert
einen Drachen, aber als sie ihm die Brust reicht, trinkt er Blut

26) Dies deutet auch Michaelis a. a. O. S. 108 an, ohne sich jedoch be-
stimmt zu entscheiden.
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[178/0192] zusammennehmen müssen 26): in der Grabthüre stand der Schatten des Agamemnon; auf und um den Grabhügel gelagert schliefen die drei Erinyen, in ihrer Mitte lag das Beil, als ob sie es be- wachten. An dieser Stelle muſs auch der kleinen Berliner Kylix G gedacht werden. Klytaimnestra, das Beil in der Hand, eilt in groſser Aufregung auf eine Thüre zu — die Thüre zu dem Bade- gemach, in dem Agamemnon weilt. Am Beil erkannte jeder antike Beschauer die Klytaimnestra, an ihrer wilden Bewegung, daſs sie im Begriffe stehe, das Verbrechen zu begehen; die richtige Deutung gab schon Millin; wenn Jahn an Merope, denkt, so kann ich ihm darin hier so wenig wie bei F beistimmen schon darum nicht, weil die Mythen der Herakliden in der Kunst wohl überhaupt nicht und in der Poesie erst vom Drama behandelt worden sind, und eine Einwirkung der Tragödie auf die Kunst und das Kunsthandwerk im 5. Jahrh. nach dem früher Bemerkten (Kap. IV) weder nachweisbar noch wahrscheinlich ist. Der attische Vasenmaler befolgte bewuſst oder unbewuſst die Version des Stesichoros. Wenn wir die bisher einzeln als stesichoreisch erkannten Züge zusammenfassen, so würde sich als Inhalt der stesichoreischen Oresteia etwa das Folgende ergeben, das ich in der Form einer Hypothesis hersetzen will, wobei ich für jeden einzelnen Zug die Quelle beifüge. Klytaimnestra hat Agamemnon mit einem Beile erschlagen (G, Aischylos, Sophokles); den kleinen Orestes hat seine Amme Laodameia den treuen Händen des Talthybios übergeben (fr. 41. Nicol. Damasc., Dictys, Sophokles, vielleicht Pindar), der ihn flüchtet (ob auch hier nach Phokis wegen Apollons?). Zehn Jahre sind ver- gangen, da träumt Klytaimnestra, daſs ein Drache mit blutigem Haupt sich ihr nahe, aber auf einmal ist’s kein Drache mehr, sondern ihr gemordeter Gatte, der sich aufs Neue ihr vermählt; sie gebiert einen Drachen, aber als sie ihm die Brust reicht, trinkt er Blut 26) Dies deutet auch Michaelis a. a. O. S. 108 an, ohne sich jedoch be- stimmt zu entscheiden.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/192>, abgerufen am 28.04.2024.