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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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vollen Worten "der Tote tötet den Lebenden") den Tod des
Aigisth meldet:

v. 882

doie tis androkmeta pelekun, os takhos;
eidomen ei nikomen, e nikometha,

aber ehe noch ihrem Wort gehorcht werden kann, tritt schon
Orestes vor sie hin, sie erkennt ihn, und vom Widerstand zum
Bitten sich wendend zeigt sie ihm die Brust, die ihn genährt
hat. Diese Version verhält sich also zu der von den Vasen-
malern befolgten, wie Vorsatz zur That; und es fragt sich, wie
dieser Zusammenhang, den Niemand für zufällig halten wird, zu
erklären ist. Hat etwa ein Dichter oder ein bildender Künstler
anknüpfend an die citierte Stelle der Choephoren den Moment so
ausgebildet, wie wir ihn auf den Vasen sehen? An Analogien für
einen solchen Vorgang fehlt es ja nicht8). Es braucht bloss an die
aischyleische Behandlung von Hektors Lösung erinnert zu werden
(s. oben S. 96). Allein, dass eine von einem der unbedeutenderen
dramatischen Dichter des fünften Jahrhunderts herrührende Behand-
lung der Orestessage die aischyleische Version in der Volksphantasie
so verdrängt haben sollte, dass sie in die Kunstdarstellungen sich
nicht nur Eingang verschaffte, sondern dieselben sogar aus-
schliesslich beherrschte, ist doch schwer zu glauben; und so hoch
man auch den Einfluss der Entwickelung bildlicher Typen auf die
Fortbildung der Sagenstoffe anschlagen mag, so ist doch undenkbar,
dass die Gestalt und das entscheidende Eingreifen des Talthybios
die freie Erfindung eines Künstlers sein sollte. Hier muss die
Poesie vorangegangen sein. Glücklicherweise lässt sich aber in
unserem Fall die Sache noch handgreiflicher beweisen; denn das
älteste Exemplar unserer Gruppe A muss -- nach der kolossalen
Umgestaltung, welche die Vasendatierung durch die neuesten Ent-
deckungen gemacht hat -- entschieden vor die Aufführung der
Oresteia, die bekanntlich Ol. 80,2 (458) gegeben wurde, fallen.
Wer aber auch behauptet, dass für eine so zuversichtliche Datierung
der rotfigurigen Vasen strengern Stils unsere Indicien nicht aus-

8) Vgl. auch Thanatos S. 29.

vollen Worten „der Tote tötet den Lebenden“) den Tod des
Aigisth meldet:

v. 882

δοίη τις ἀνδροκμῆτα πέλεκυν, ὡς τάχος·
εἰδῶμεν εἰ νικῶμεν, ἢ νικώμεϑα,

aber ehe noch ihrem Wort gehorcht werden kann, tritt schon
Orestes vor sie hin, sie erkennt ihn, und vom Widerstand zum
Bitten sich wendend zeigt sie ihm die Brust, die ihn genährt
hat. Diese Version verhält sich also zu der von den Vasen-
malern befolgten, wie Vorsatz zur That; und es fragt sich, wie
dieser Zusammenhang, den Niemand für zufällig halten wird, zu
erklären ist. Hat etwa ein Dichter oder ein bildender Künstler
anknüpfend an die citierte Stelle der Choephoren den Moment so
ausgebildet, wie wir ihn auf den Vasen sehen? An Analogien für
einen solchen Vorgang fehlt es ja nicht8). Es braucht bloſs an die
aischyleische Behandlung von Hektors Lösung erinnert zu werden
(s. oben S. 96). Allein, daſs eine von einem der unbedeutenderen
dramatischen Dichter des fünften Jahrhunderts herrührende Behand-
lung der Orestessage die aischyleische Version in der Volksphantasie
so verdrängt haben sollte, daſs sie in die Kunstdarstellungen sich
nicht nur Eingang verschaffte, sondern dieselben sogar aus-
schlieſslich beherrschte, ist doch schwer zu glauben; und so hoch
man auch den Einfluſs der Entwickelung bildlicher Typen auf die
Fortbildung der Sagenstoffe anschlagen mag, so ist doch undenkbar,
daſs die Gestalt und das entscheidende Eingreifen des Talthybios
die freie Erfindung eines Künstlers sein sollte. Hier muſs die
Poesie vorangegangen sein. Glücklicherweise läſst sich aber in
unserem Fall die Sache noch handgreiflicher beweisen; denn das
älteste Exemplar unserer Gruppe A muſs — nach der kolossalen
Umgestaltung, welche die Vasendatierung durch die neuesten Ent-
deckungen gemacht hat — entschieden vor die Aufführung der
Oresteia, die bekanntlich Ol. 80,2 (458) gegeben wurde, fallen.
Wer aber auch behauptet, daſs für eine so zuversichtliche Datierung
der rotfigurigen Vasen strengern Stils unsere Indicien nicht aus-

8) Vgl. auch Thanatos S. 29.
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[160/0174] vollen Worten „der Tote tötet den Lebenden“) den Tod des Aigisth meldet: v. 882 δοίη τις ἀνδροκμῆτα πέλεκυν, ὡς τάχος· εἰδῶμεν εἰ νικῶμεν, ἢ νικώμεϑα, aber ehe noch ihrem Wort gehorcht werden kann, tritt schon Orestes vor sie hin, sie erkennt ihn, und vom Widerstand zum Bitten sich wendend zeigt sie ihm die Brust, die ihn genährt hat. Diese Version verhält sich also zu der von den Vasen- malern befolgten, wie Vorsatz zur That; und es fragt sich, wie dieser Zusammenhang, den Niemand für zufällig halten wird, zu erklären ist. Hat etwa ein Dichter oder ein bildender Künstler anknüpfend an die citierte Stelle der Choephoren den Moment so ausgebildet, wie wir ihn auf den Vasen sehen? An Analogien für einen solchen Vorgang fehlt es ja nicht 8). Es braucht bloſs an die aischyleische Behandlung von Hektors Lösung erinnert zu werden (s. oben S. 96). Allein, daſs eine von einem der unbedeutenderen dramatischen Dichter des fünften Jahrhunderts herrührende Behand- lung der Orestessage die aischyleische Version in der Volksphantasie so verdrängt haben sollte, daſs sie in die Kunstdarstellungen sich nicht nur Eingang verschaffte, sondern dieselben sogar aus- schlieſslich beherrschte, ist doch schwer zu glauben; und so hoch man auch den Einfluſs der Entwickelung bildlicher Typen auf die Fortbildung der Sagenstoffe anschlagen mag, so ist doch undenkbar, daſs die Gestalt und das entscheidende Eingreifen des Talthybios die freie Erfindung eines Künstlers sein sollte. Hier muſs die Poesie vorangegangen sein. Glücklicherweise läſst sich aber in unserem Fall die Sache noch handgreiflicher beweisen; denn das älteste Exemplar unserer Gruppe A muſs — nach der kolossalen Umgestaltung, welche die Vasendatierung durch die neuesten Ent- deckungen gemacht hat — entschieden vor die Aufführung der Oresteia, die bekanntlich Ol. 80,2 (458) gegeben wurde, fallen. Wer aber auch behauptet, daſs für eine so zuversichtliche Datierung der rotfigurigen Vasen strengern Stils unsere Indicien nicht aus- 8) Vgl. auch Thanatos S. 29.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/174>, abgerufen am 28.04.2024.