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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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fasst Orestes den Aigisthos bei den Haaren, der jedoch nicht auf
dem Sessel sitzt, sondern, ähnlich wie auf D, am Boden liegt.
Die Handlung der Frau neben Orestes scheint missverstanden;
sie wird denselben nicht zurückgehalten, sondern auf die drohende
Gefahr hingewiesen haben. Es war, wenn sie wirklich alt war,
die Amme, wahrscheinlicher aber Elektra. In der von Brunn
auf Elektra und Pylades gedeuteten Gruppe vielmehr Klytai-
mnestra und Talthybios zu erblicken, scheint mir nach allem
bisher Gesagten nicht zu kühn6).

Der dieser ganzen Vasengruppe zu Grunde liegende Typus
stellt also folgende Scene dar: Orestes in voller Rüstung stösst
dem Aigisthos das Schwert in die Brust. Klytaimnestra eilt mit
geschwungenem Doppelbeil dem Gatten zu Hilfe; ein warnender
Zuruf der erschreckten Elektra -- denn dass diese und nicht
Chrysothemis ursprünglich ist, wird sich gleich zeigen -- macht
den Bruder auf die ihm vom Rücken drohende Gefahr aufmerksam,
so dass er sich umsieht, aber schon ist der greise Talthybios zu
Hilfe geeilt und entwaffnet Klytaimnestra. Woher stammt diese
Sagenversion? Längst ist bemerkt, dass keiner der drei grossen
Tragiker die Quelle sein könne; denn bei Euripides wird bekannt-
lich Aigisthos bei einem Opfer auf dem Lande, bei Sophokles
zwar im Palaste, aber erst nach der Klytaimnestra getötet7).
Bei Aischylos endlich wird zwar Aigisthos im Palast, auch vor
Klytaimnestra getötet, allein eine den Vasendarstellungen genau
entsprechende Scene findet sich in den Choephoren nicht. Wohl
ruft dort Klytaimnestra, als ihr der Sklave (mit den geheimniss-

6) Einem mir immer wieder aufsteigenden Zweifel, ob die Vase überhaupt
hierhergehöre, möchte ich wenigstens in der Anmerkung Ausdruck geben.
Wenn die Frau wirklich eine Keule und kein Doppelbeil schwingt, liegt der
Gedanke an die Andromache der Iliupersis nahe, s. oben S. 63 f. Der Ge-
fallene wäre dann Deiphobos, der Sieger Menelaos, die Frau, welche seinen
Arm fasst, Helena; der Mann neben Andromache je nach seiner Handlung,
die durch die Beschreibung nicht deutlich wird, Odysseus oder ein Tro-
ianer.
7) Vgl. über diese Umgestaltung und ihre Gründe die feinen Bemer-
kungen von A. Mau in den Commentationes Mommsenianae S. 291 f.

faſst Orestes den Aigisthos bei den Haaren, der jedoch nicht auf
dem Sessel sitzt, sondern, ähnlich wie auf D, am Boden liegt.
Die Handlung der Frau neben Orestes scheint miſsverstanden;
sie wird denselben nicht zurückgehalten, sondern auf die drohende
Gefahr hingewiesen haben. Es war, wenn sie wirklich alt war,
die Amme, wahrscheinlicher aber Elektra. In der von Brunn
auf Elektra und Pylades gedeuteten Gruppe vielmehr Klytai-
mnestra und Talthybios zu erblicken, scheint mir nach allem
bisher Gesagten nicht zu kühn6).

Der dieser ganzen Vasengruppe zu Grunde liegende Typus
stellt also folgende Scene dar: Orestes in voller Rüstung stöſst
dem Aigisthos das Schwert in die Brust. Klytaimnestra eilt mit
geschwungenem Doppelbeil dem Gatten zu Hilfe; ein warnender
Zuruf der erschreckten Elektra — denn daſs diese und nicht
Chrysothemis ursprünglich ist, wird sich gleich zeigen — macht
den Bruder auf die ihm vom Rücken drohende Gefahr aufmerksam,
so daſs er sich umsieht, aber schon ist der greise Talthybios zu
Hilfe geeilt und entwaffnet Klytaimnestra. Woher stammt diese
Sagenversion? Längst ist bemerkt, daſs keiner der drei groſsen
Tragiker die Quelle sein könne; denn bei Euripides wird bekannt-
lich Aigisthos bei einem Opfer auf dem Lande, bei Sophokles
zwar im Palaste, aber erst nach der Klytaimnestra getötet7).
Bei Aischylos endlich wird zwar Aigisthos im Palast, auch vor
Klytaimnestra getötet, allein eine den Vasendarstellungen genau
entsprechende Scene findet sich in den Choephoren nicht. Wohl
ruft dort Klytaimnestra, als ihr der Sklave (mit den geheimniſs-

6) Einem mir immer wieder aufsteigenden Zweifel, ob die Vase überhaupt
hierhergehöre, möchte ich wenigstens in der Anmerkung Ausdruck geben.
Wenn die Frau wirklich eine Keule und kein Doppelbeil schwingt, liegt der
Gedanke an die Andromache der Iliupersis nahe, s. oben S. 63 f. Der Ge-
fallene wäre dann Deiphobos, der Sieger Menelaos, die Frau, welche seinen
Arm faſst, Helena; der Mann neben Andromache je nach seiner Handlung,
die durch die Beschreibung nicht deutlich wird, Odysseus oder ein Tro-
ianer.
7) Vgl. über diese Umgestaltung und ihre Gründe die feinen Bemer-
kungen von A. Mau in den Commentationes Mommsenianae S. 291 f.
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[159/0173] faſst Orestes den Aigisthos bei den Haaren, der jedoch nicht auf dem Sessel sitzt, sondern, ähnlich wie auf D, am Boden liegt. Die Handlung der Frau neben Orestes scheint miſsverstanden; sie wird denselben nicht zurückgehalten, sondern auf die drohende Gefahr hingewiesen haben. Es war, wenn sie wirklich alt war, die Amme, wahrscheinlicher aber Elektra. In der von Brunn auf Elektra und Pylades gedeuteten Gruppe vielmehr Klytai- mnestra und Talthybios zu erblicken, scheint mir nach allem bisher Gesagten nicht zu kühn 6). Der dieser ganzen Vasengruppe zu Grunde liegende Typus stellt also folgende Scene dar: Orestes in voller Rüstung stöſst dem Aigisthos das Schwert in die Brust. Klytaimnestra eilt mit geschwungenem Doppelbeil dem Gatten zu Hilfe; ein warnender Zuruf der erschreckten Elektra — denn daſs diese und nicht Chrysothemis ursprünglich ist, wird sich gleich zeigen — macht den Bruder auf die ihm vom Rücken drohende Gefahr aufmerksam, so daſs er sich umsieht, aber schon ist der greise Talthybios zu Hilfe geeilt und entwaffnet Klytaimnestra. Woher stammt diese Sagenversion? Längst ist bemerkt, daſs keiner der drei groſsen Tragiker die Quelle sein könne; denn bei Euripides wird bekannt- lich Aigisthos bei einem Opfer auf dem Lande, bei Sophokles zwar im Palaste, aber erst nach der Klytaimnestra getötet 7). Bei Aischylos endlich wird zwar Aigisthos im Palast, auch vor Klytaimnestra getötet, allein eine den Vasendarstellungen genau entsprechende Scene findet sich in den Choephoren nicht. Wohl ruft dort Klytaimnestra, als ihr der Sklave (mit den geheimniſs- 6) Einem mir immer wieder aufsteigenden Zweifel, ob die Vase überhaupt hierhergehöre, möchte ich wenigstens in der Anmerkung Ausdruck geben. Wenn die Frau wirklich eine Keule und kein Doppelbeil schwingt, liegt der Gedanke an die Andromache der Iliupersis nahe, s. oben S. 63 f. Der Ge- fallene wäre dann Deiphobos, der Sieger Menelaos, die Frau, welche seinen Arm faſst, Helena; der Mann neben Andromache je nach seiner Handlung, die durch die Beschreibung nicht deutlich wird, Odysseus oder ein Tro- ianer. 7) Vgl. über diese Umgestaltung und ihre Gründe die feinen Bemer- kungen von A. Mau in den Commentationes Mommsenianae S. 291 f.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/173>, abgerufen am 28.04.2024.