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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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nicht zu Teil geworden ist, scheint es thatsächlich unmöglich, die
Gründe anzugeben, weshalb gerade diese Sage ein Knotenpunkt
der Handlung, jene nur eine wertlose Episode sein soll, weshalb
gerade diese Sage bildlich gestaltet worden ist, jene hingegen
nicht. Ein Fernerstehender wird sogar die Empfindung nicht
unterdrücken können, dass diese Unterscheidung oft nach recht
willkürlichen, mindestens ganz subjektiven Gesichtspunkten ge-
macht wird.

Es ist nicht schwer dies an einem Beispiel zu zeigen. So
hebt Brunn mit Recht hervor, dass aus dem Kreis der Kyprien
drei Episoden in früher Zeit bildlich gestaltet worden sind: der
Ringkampf des Peleus und der Thetis, das Parisurteil, der Tod
des Troilos. Das vermeintliche Fehlen der Entführung der
Helena57) macht Brunn nur einen Augenblick bedenklich; er
motiviert es dadurch, dass der Raub der Helena nur "der
faktische äussere Anlass zum Kriege" sei und von keiner solch
"tiefen epischen Bedeutung", wie die beiden zuerst genannten
Episoden, welche "die anerkannten durch den Ratschluss des
Zeus gewollten Ausgangspunkte des gesamten troischen Krieges"
seien. Hingegen wird eine vierte, in dieselbe Reihe gehörige
Darstellung, die Übergabe des kleinen Achill an Cheiron58) S. 172

Kräfte nicht sofort beim ersten feindlichen Zusammentreffen aufs Spiel zu
setzen, sondern für die letzten Entscheidungskämpfe aufzusparen. So wird
die erste Begegnung beziehungsreich für die Folgen, und die Bedeutung der
beiden Helden für die letzte Entscheidung des Krieges tritt gerade durch
die gewaltsame Verzögerung derselben in das hellste Licht (S. 174)". Letztere
Stelle bezieht sich auf die Darstellung des M. d. I. I 35. 36 (= Welcker A.
D. III 15. Overbeck, Her. Gall. XV 4) veröffentlichten Vasenbildes, das Welcker
in dem von Brunn angegebenen Sinne deutet, während es vielmehr, wie
Luckenbach a. a. O. S. 519 schlagend nachweist, den aufgehobenen Zweikampf
zwischen Hektor und Aias darstellt, also eine Scene der Ilias, von der ich
freilich nicht sagen kann, ob sie nach Brunns Ansicht die Geltung einer
wertlosen Episode oder eines Kern- und Knotenpunktes der Handlung hat.
57) Dass dieselbe tatsächlich auf schwarzfigurigen Vasen dargestellt war,
habe ich oben S. 56 zu zeigen versucht.
58) Dass dies in den Kyprien vorkam, ist übrigens nichts weniger wie
ausgemacht. Dass L 832 nur von einem Unterricht in der Heilkunde spricht
und die Ilias von der Erziehung des Achilleus durch Cheiron nichts weiss, hat

nicht zu Teil geworden ist, scheint es thatsächlich unmöglich, die
Gründe anzugeben, weshalb gerade diese Sage ein Knotenpunkt
der Handlung, jene nur eine wertlose Episode sein soll, weshalb
gerade diese Sage bildlich gestaltet worden ist, jene hingegen
nicht. Ein Fernerstehender wird sogar die Empfindung nicht
unterdrücken können, daſs diese Unterscheidung oft nach recht
willkürlichen, mindestens ganz subjektiven Gesichtspunkten ge-
macht wird.

Es ist nicht schwer dies an einem Beispiel zu zeigen. So
hebt Brunn mit Recht hervor, daſs aus dem Kreis der Kyprien
drei Episoden in früher Zeit bildlich gestaltet worden sind: der
Ringkampf des Peleus und der Thetis, das Parisurteil, der Tod
des Troilos. Das vermeintliche Fehlen der Entführung der
Helena57) macht Brunn nur einen Augenblick bedenklich; er
motiviert es dadurch, daſs der Raub der Helena nur „der
faktische äuſsere Anlaſs zum Kriege“ sei und von keiner solch
„tiefen epischen Bedeutung“, wie die beiden zuerst genannten
Episoden, welche „die anerkannten durch den Ratschluſs des
Zeus gewollten Ausgangspunkte des gesamten troischen Krieges“
seien. Hingegen wird eine vierte, in dieselbe Reihe gehörige
Darstellung, die Übergabe des kleinen Achill an Cheiron58) S. 172

Kräfte nicht sofort beim ersten feindlichen Zusammentreffen aufs Spiel zu
setzen, sondern für die letzten Entscheidungskämpfe aufzusparen. So wird
die erste Begegnung beziehungsreich für die Folgen, und die Bedeutung der
beiden Helden für die letzte Entscheidung des Krieges tritt gerade durch
die gewaltsame Verzögerung derselben in das hellste Licht (S. 174)“. Letztere
Stelle bezieht sich auf die Darstellung des M. d. I. I 35. 36 (= Welcker A.
D. III 15. Overbeck, Her. Gall. XV 4) veröffentlichten Vasenbildes, das Welcker
in dem von Brunn angegebenen Sinne deutet, während es vielmehr, wie
Luckenbach a. a. O. S. 519 schlagend nachweist, den aufgehobenen Zweikampf
zwischen Hektor und Aias darstellt, also eine Scene der Ilias, von der ich
freilich nicht sagen kann, ob sie nach Brunns Ansicht die Geltung einer
wertlosen Episode oder eines Kern- und Knotenpunktes der Handlung hat.
57) Daſs dieselbe tatsächlich auf schwarzfigurigen Vasen dargestellt war,
habe ich oben S. 56 zu zeigen versucht.
58) Daſs dies in den Kyprien vorkam, ist übrigens nichts weniger wie
ausgemacht. Daſs Λ 832 nur von einem Unterricht in der Heilkunde spricht
und die Ilias von der Erziehung des Achilleus durch Cheiron nichts weiſs, hat
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[123/0137] nicht zu Teil geworden ist, scheint es thatsächlich unmöglich, die Gründe anzugeben, weshalb gerade diese Sage ein Knotenpunkt der Handlung, jene nur eine wertlose Episode sein soll, weshalb gerade diese Sage bildlich gestaltet worden ist, jene hingegen nicht. Ein Fernerstehender wird sogar die Empfindung nicht unterdrücken können, daſs diese Unterscheidung oft nach recht willkürlichen, mindestens ganz subjektiven Gesichtspunkten ge- macht wird. Es ist nicht schwer dies an einem Beispiel zu zeigen. So hebt Brunn mit Recht hervor, daſs aus dem Kreis der Kyprien drei Episoden in früher Zeit bildlich gestaltet worden sind: der Ringkampf des Peleus und der Thetis, das Parisurteil, der Tod des Troilos. Das vermeintliche Fehlen der Entführung der Helena 57) macht Brunn nur einen Augenblick bedenklich; er motiviert es dadurch, daſs der Raub der Helena nur „der faktische äuſsere Anlaſs zum Kriege“ sei und von keiner solch „tiefen epischen Bedeutung“, wie die beiden zuerst genannten Episoden, welche „die anerkannten durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangspunkte des gesamten troischen Krieges“ seien. Hingegen wird eine vierte, in dieselbe Reihe gehörige Darstellung, die Übergabe des kleinen Achill an Cheiron 58) S. 172 56) 57) Daſs dieselbe tatsächlich auf schwarzfigurigen Vasen dargestellt war, habe ich oben S. 56 zu zeigen versucht. 58) Daſs dies in den Kyprien vorkam, ist übrigens nichts weniger wie ausgemacht. Daſs Λ 832 nur von einem Unterricht in der Heilkunde spricht und die Ilias von der Erziehung des Achilleus durch Cheiron nichts weiſs, hat 56) Kräfte nicht sofort beim ersten feindlichen Zusammentreffen aufs Spiel zu setzen, sondern für die letzten Entscheidungskämpfe aufzusparen. So wird die erste Begegnung beziehungsreich für die Folgen, und die Bedeutung der beiden Helden für die letzte Entscheidung des Krieges tritt gerade durch die gewaltsame Verzögerung derselben in das hellste Licht (S. 174)“. Letztere Stelle bezieht sich auf die Darstellung des M. d. I. I 35. 36 (= Welcker A. D. III 15. Overbeck, Her. Gall. XV 4) veröffentlichten Vasenbildes, das Welcker in dem von Brunn angegebenen Sinne deutet, während es vielmehr, wie Luckenbach a. a. O. S. 519 schlagend nachweist, den aufgehobenen Zweikampf zwischen Hektor und Aias darstellt, also eine Scene der Ilias, von der ich freilich nicht sagen kann, ob sie nach Brunns Ansicht die Geltung einer wertlosen Episode oder eines Kern- und Knotenpunktes der Handlung hat.

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/137>, abgerufen am 02.05.2024.