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Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881.

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Begriff davon zu machen, was eigentlich "ein Kern- und Knoten-
punkt der Sage" ist und woran man ihn erkennt. Bei einem
Roman, einem Drama, auch einem Kunstepos, kurz jedem nach
einem einheitlichen Plan entworfenen Dichtwerk, kann man von
Kern- und Knotenpunkten sprechen; wie das aber bei der Sage
und dem Volkslied möglich sein soll, wie sich eine solche An-
schauung mit der allmählichen Entwickelung der Volkssage und
der Entstehungsgeschichte der homerischen Gedichte und des so-
genannten Kyklus vertragen soll, dies einzusehen, bin ich absolut
ausser Stande; es scheint demnach, dass Brunn zu ganz neuen über-
raschenden Resultaten auf diesem Gebiete gekommen ist, die er
hoffentlich nicht unterlassen will, ausführlich im Zusammenhang dar-
zulegen und zu begründen56). So lange aber diese Belehrung uns

56) Es scheint manchmal in der That, als ob sich Brunn die Ilias und
die übrigen den troischen Sagenkreis behandelnden Epen vorstelle, wie ein
grosses nach einheitlichem wohlüberlegten Plan ausgearbeitetes Dichtungs-
werk, etwa wie die Shakespearischen Königsdramen oder einen Romancyclus.
Wenigstens weiss ich nicht, wie man sich anders Äusserungen, wie die folgen-
den, erklären will: "Die Liebeswerbung des Peleus und das Urteil des Paris
sind die anerkannten durch den Ratschluss des Zeus gewollten Ausgangs-
punkte des gesamten troischen Krieges und überragen dadurch an tieferer,
ich möchte hier sagen epischer (?), Bedeutung sogar den factischen
äusseren (?) Anlass zum Kriege, die Liebeswerbung des Paris und die Ent-
führung der Helena (S. 171)". "des Odysseus erheuchelter Wahnsinn .. hat für
das Epos nur den Werth einer Episode ... von entschiedener Wichtigkeit für
das Epos ist hingegen die Teilnahme des Achilles, als des Haupthelden des
ganzen Krieges, der für diesen Krieg ausdrücklich geboren und erzogen wird
(S. 172)". "Die Gegenwart des Telephos im Griechenlager wird im Epos da-
durch motiviert, dass er nach der ersten verfehlten Fahrt den Hellenen als
Wegweiser nach Troia dienen soll, eine Thatsache, die allerdings für die
weitere Entwicklung poetisch nicht gerade ins Gewicht fällt (S. 173)". "Die
Opferung der Iphigenie hat eine tiefere Bedeutung weniger für den troischen
Krieg, als für die Nostoi und die Orestessage (ebenda)". "Anders verhält es
sich mit dem von Welcker so schön nachgewiesenen aufgehobenen Zweikampf
zwischen Achill und Hektor. Es ist natürlich, dass die beiden Haupthelden
der feindlichen Parteien vor Begierde brennen, ihre Kräfte mit einander zu
messen und dass darum der Dichter sie so schnell als möglich, wahrschein-
lich unmittelbar nach dem Tode des Kyknos, einander gegenüberstellt, aber
ebenso natürlich, dass es im Interesse der beiden Parteien liegt, die besten

Begriff davon zu machen, was eigentlich „ein Kern- und Knoten-
punkt der Sage“ ist und woran man ihn erkennt. Bei einem
Roman, einem Drama, auch einem Kunstepos, kurz jedem nach
einem einheitlichen Plan entworfenen Dichtwerk, kann man von
Kern- und Knotenpunkten sprechen; wie das aber bei der Sage
und dem Volkslied möglich sein soll, wie sich eine solche An-
schauung mit der allmählichen Entwickelung der Volkssage und
der Entstehungsgeschichte der homerischen Gedichte und des so-
genannten Kyklus vertragen soll, dies einzusehen, bin ich absolut
auſser Stande; es scheint demnach, daſs Brunn zu ganz neuen über-
raschenden Resultaten auf diesem Gebiete gekommen ist, die er
hoffentlich nicht unterlassen will, ausführlich im Zusammenhang dar-
zulegen und zu begründen56). So lange aber diese Belehrung uns

56) Es scheint manchmal in der That, als ob sich Brunn die Ilias und
die übrigen den troischen Sagenkreis behandelnden Epen vorstelle, wie ein
groſses nach einheitlichem wohlüberlegten Plan ausgearbeitetes Dichtungs-
werk, etwa wie die Shakespearischen Königsdramen oder einen Romancyclus.
Wenigstens weiſs ich nicht, wie man sich anders Äuſserungen, wie die folgen-
den, erklären will: „Die Liebeswerbung des Peleus und das Urteil des Paris
sind die anerkannten durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangs-
punkte des gesamten troischen Krieges und überragen dadurch an tieferer,
ich möchte hier sagen epischer (?), Bedeutung sogar den factischen
äuſseren (?) Anlaſs zum Kriege, die Liebeswerbung des Paris und die Ent-
führung der Helena (S. 171)“. „des Odysseus erheuchelter Wahnsinn .. hat für
das Epos nur den Werth einer Episode … von entschiedener Wichtigkeit für
das Epos ist hingegen die Teilnahme des Achilles, als des Haupthelden des
ganzen Krieges, der für diesen Krieg ausdrücklich geboren und erzogen wird
(S. 172)“. „Die Gegenwart des Telephos im Griechenlager wird im Epos da-
durch motiviert, daſs er nach der ersten verfehlten Fahrt den Hellenen als
Wegweiser nach Troia dienen soll, eine Thatsache, die allerdings für die
weitere Entwicklung poetisch nicht gerade ins Gewicht fällt (S. 173)“. „Die
Opferung der Iphigenie hat eine tiefere Bedeutung weniger für den troischen
Krieg, als für die Nostoi und die Orestessage (ebenda)“. „Anders verhält es
sich mit dem von Welcker so schön nachgewiesenen aufgehobenen Zweikampf
zwischen Achill und Hektor. Es ist natürlich, daſs die beiden Haupthelden
der feindlichen Parteien vor Begierde brennen, ihre Kräfte mit einander zu
messen und daſs darum der Dichter sie so schnell als möglich, wahrschein-
lich unmittelbar nach dem Tode des Kyknos, einander gegenüberstellt, aber
ebenso natürlich, daſs es im Interesse der beiden Parteien liegt, die besten
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[122/0136] Begriff davon zu machen, was eigentlich „ein Kern- und Knoten- punkt der Sage“ ist und woran man ihn erkennt. Bei einem Roman, einem Drama, auch einem Kunstepos, kurz jedem nach einem einheitlichen Plan entworfenen Dichtwerk, kann man von Kern- und Knotenpunkten sprechen; wie das aber bei der Sage und dem Volkslied möglich sein soll, wie sich eine solche An- schauung mit der allmählichen Entwickelung der Volkssage und der Entstehungsgeschichte der homerischen Gedichte und des so- genannten Kyklus vertragen soll, dies einzusehen, bin ich absolut auſser Stande; es scheint demnach, daſs Brunn zu ganz neuen über- raschenden Resultaten auf diesem Gebiete gekommen ist, die er hoffentlich nicht unterlassen will, ausführlich im Zusammenhang dar- zulegen und zu begründen 56). So lange aber diese Belehrung uns 56) Es scheint manchmal in der That, als ob sich Brunn die Ilias und die übrigen den troischen Sagenkreis behandelnden Epen vorstelle, wie ein groſses nach einheitlichem wohlüberlegten Plan ausgearbeitetes Dichtungs- werk, etwa wie die Shakespearischen Königsdramen oder einen Romancyclus. Wenigstens weiſs ich nicht, wie man sich anders Äuſserungen, wie die folgen- den, erklären will: „Die Liebeswerbung des Peleus und das Urteil des Paris sind die anerkannten durch den Ratschluſs des Zeus gewollten Ausgangs- punkte des gesamten troischen Krieges und überragen dadurch an tieferer, ich möchte hier sagen epischer (?), Bedeutung sogar den factischen äuſseren (?) Anlaſs zum Kriege, die Liebeswerbung des Paris und die Ent- führung der Helena (S. 171)“. „des Odysseus erheuchelter Wahnsinn .. hat für das Epos nur den Werth einer Episode … von entschiedener Wichtigkeit für das Epos ist hingegen die Teilnahme des Achilles, als des Haupthelden des ganzen Krieges, der für diesen Krieg ausdrücklich geboren und erzogen wird (S. 172)“. „Die Gegenwart des Telephos im Griechenlager wird im Epos da- durch motiviert, daſs er nach der ersten verfehlten Fahrt den Hellenen als Wegweiser nach Troia dienen soll, eine Thatsache, die allerdings für die weitere Entwicklung poetisch nicht gerade ins Gewicht fällt (S. 173)“. „Die Opferung der Iphigenie hat eine tiefere Bedeutung weniger für den troischen Krieg, als für die Nostoi und die Orestessage (ebenda)“. „Anders verhält es sich mit dem von Welcker so schön nachgewiesenen aufgehobenen Zweikampf zwischen Achill und Hektor. Es ist natürlich, daſs die beiden Haupthelden der feindlichen Parteien vor Begierde brennen, ihre Kräfte mit einander zu messen und daſs darum der Dichter sie so schnell als möglich, wahrschein- lich unmittelbar nach dem Tode des Kyknos, einander gegenüberstellt, aber ebenso natürlich, daſs es im Interesse der beiden Parteien liegt, die besten

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Zitationshilfe: Robert, Carl: Bild und Lied. Archäologische Beiträge zur Geschichte der griechischen Heldensage. Berlin, 1881, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/robert_griechische_1881/136>, abgerufen am 24.11.2024.