Riehl, Wilhelm Heinrich: Jörg Muckenbuber. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 8. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 67–94. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Als sie die Urkunde unterzeichnete, fand sie noch die Rechnung beigelegt über ihre Verköstigung während der elfmonatlichen Haft. Sie reichte jedoch das Blatt mit artigem Lächeln dem Stadtschreiber zurück, und da die Menge bereits an der Thür pochte, so zerpflückte derselbe die interessante Beilage möglichst geschwind und streute die Stückchen unter den Tisch. Dem Jörg hatte man derweil die Ketten wieder abgenommen; er schaute umher wie im Traum und ließ sich Alles schweigend gefallen. Frau Hollin nahm ihn bei der Hand und ging zur Thür, wo Beide von der hereindrängenden Menge jubelnd empfangen wurden. Der Stadtschreiber wollte auch jetzt noch zeigen, daß er doch nicht gar aufs Maul geschlagen sei, und rief halblaut den Abgehenden nach: Nun findet dies edle Pflegkind in Ulm doch wenigstens einen Galgen, an welchem es heimathberechtigt ist. Frau Hollin hatte ihn wohl verstanden, darum kehrte sie sich in der Thür noch einmal zurück und rief mit erhobenem Ton: Stadtschreiber, man sollte Euch auch einmal elf Monate einsperren, damit Ihr des Menschen Herz kennen lerntet. Ihr würdet dann vielleicht finden, es giebt Leute, die verachten den Tod und begehren ihn zugleich, so öd und reizlos ist ihr rohes Leben, Andere dagegen haben die wahre Herrlichkeit des Lebens so reich geschmeckt und so gewaltigen Lebensmuth dadurch gewonnen, daß sie darum den Tod verachten, den sie nicht gesucht. Jene schreckt der Tod Als sie die Urkunde unterzeichnete, fand sie noch die Rechnung beigelegt über ihre Verköstigung während der elfmonatlichen Haft. Sie reichte jedoch das Blatt mit artigem Lächeln dem Stadtschreiber zurück, und da die Menge bereits an der Thür pochte, so zerpflückte derselbe die interessante Beilage möglichst geschwind und streute die Stückchen unter den Tisch. Dem Jörg hatte man derweil die Ketten wieder abgenommen; er schaute umher wie im Traum und ließ sich Alles schweigend gefallen. Frau Hollin nahm ihn bei der Hand und ging zur Thür, wo Beide von der hereindrängenden Menge jubelnd empfangen wurden. Der Stadtschreiber wollte auch jetzt noch zeigen, daß er doch nicht gar aufs Maul geschlagen sei, und rief halblaut den Abgehenden nach: Nun findet dies edle Pflegkind in Ulm doch wenigstens einen Galgen, an welchem es heimathberechtigt ist. Frau Hollin hatte ihn wohl verstanden, darum kehrte sie sich in der Thür noch einmal zurück und rief mit erhobenem Ton: Stadtschreiber, man sollte Euch auch einmal elf Monate einsperren, damit Ihr des Menschen Herz kennen lerntet. Ihr würdet dann vielleicht finden, es giebt Leute, die verachten den Tod und begehren ihn zugleich, so öd und reizlos ist ihr rohes Leben, Andere dagegen haben die wahre Herrlichkeit des Lebens so reich geschmeckt und so gewaltigen Lebensmuth dadurch gewonnen, daß sie darum den Tod verachten, den sie nicht gesucht. Jene schreckt der Tod <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <pb facs="#f0029"/> <p>Als sie die Urkunde unterzeichnete, fand sie noch die Rechnung beigelegt über ihre Verköstigung während der elfmonatlichen Haft. Sie reichte jedoch das Blatt mit artigem Lächeln dem Stadtschreiber zurück, und da die Menge bereits an der Thür pochte, so zerpflückte derselbe die interessante Beilage möglichst geschwind und streute die Stückchen unter den Tisch.</p><lb/> <p>Dem Jörg hatte man derweil die Ketten wieder abgenommen; er schaute umher wie im Traum und ließ sich Alles schweigend gefallen.</p><lb/> <p>Frau Hollin nahm ihn bei der Hand und ging zur Thür, wo Beide von der hereindrängenden Menge jubelnd empfangen wurden. Der Stadtschreiber wollte auch jetzt noch zeigen, daß er doch nicht gar aufs Maul geschlagen sei, und rief halblaut den Abgehenden nach: Nun findet dies edle Pflegkind in Ulm doch wenigstens einen Galgen, an welchem es heimathberechtigt ist.</p><lb/> <p>Frau Hollin hatte ihn wohl verstanden, darum kehrte sie sich in der Thür noch einmal zurück und rief mit erhobenem Ton: Stadtschreiber, man sollte Euch auch einmal elf Monate einsperren, damit Ihr des Menschen Herz kennen lerntet. Ihr würdet dann vielleicht finden, es giebt Leute, die verachten den Tod und begehren ihn zugleich, so öd und reizlos ist ihr rohes Leben, Andere dagegen haben die wahre Herrlichkeit des Lebens so reich geschmeckt und so gewaltigen Lebensmuth dadurch gewonnen, daß sie darum den Tod verachten, den sie nicht gesucht. Jene schreckt der Tod<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
Als sie die Urkunde unterzeichnete, fand sie noch die Rechnung beigelegt über ihre Verköstigung während der elfmonatlichen Haft. Sie reichte jedoch das Blatt mit artigem Lächeln dem Stadtschreiber zurück, und da die Menge bereits an der Thür pochte, so zerpflückte derselbe die interessante Beilage möglichst geschwind und streute die Stückchen unter den Tisch.
Dem Jörg hatte man derweil die Ketten wieder abgenommen; er schaute umher wie im Traum und ließ sich Alles schweigend gefallen.
Frau Hollin nahm ihn bei der Hand und ging zur Thür, wo Beide von der hereindrängenden Menge jubelnd empfangen wurden. Der Stadtschreiber wollte auch jetzt noch zeigen, daß er doch nicht gar aufs Maul geschlagen sei, und rief halblaut den Abgehenden nach: Nun findet dies edle Pflegkind in Ulm doch wenigstens einen Galgen, an welchem es heimathberechtigt ist.
Frau Hollin hatte ihn wohl verstanden, darum kehrte sie sich in der Thür noch einmal zurück und rief mit erhobenem Ton: Stadtschreiber, man sollte Euch auch einmal elf Monate einsperren, damit Ihr des Menschen Herz kennen lerntet. Ihr würdet dann vielleicht finden, es giebt Leute, die verachten den Tod und begehren ihn zugleich, so öd und reizlos ist ihr rohes Leben, Andere dagegen haben die wahre Herrlichkeit des Lebens so reich geschmeckt und so gewaltigen Lebensmuth dadurch gewonnen, daß sie darum den Tod verachten, den sie nicht gesucht. Jene schreckt der Tod
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription.
(2017-03-16T10:09:41Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2017-03-16T10:09:41Z)
Weitere Informationen:Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |