Deutscher
Novellenschatz
herausgegeben
von
Paul Heyse
und
Hermann Kurz.
Zweite Serie.
Zweiter Band.
(Der ganzen Reihe achter Band.)
Erste Auflage
München.
Rudolph Oldenbourg.
1872
Druck von R. Oldenbourg in München.
Inhalt.
Seite
Die Engel-Ehe. Von C. Spindler 1
Jörg Muckenhuber. Von W. H. Riehl 67
Eine Verlorene. Von Leopold Kompert 95
Jörg Muckenhuber.
Von W. H. Riehl.
Geschichten aus alter Zeit von W. H. Riehl. 1863.
Sämmtliche Geschichten und Novellen von W. H. Riehl.
Volksausgabe. Bd. 1. Stuttgart 18631871. J. G. Cotta'sche
Buchhandlung.
Wilhelm Heinrich Riehl, geboren den 6. Mai 1823 zu Biberich, studirte in Marburg, Tübingen, Bonn und Gießen Theologie, Philosophie und Geschichte, in Gießen vornehmlich Cultur- und Kunstgeschichte, wurde 1845 Mitredacteur der Oberpostamtszeitung in Frankfurt, dann der Karlsruher Zeitung und des Badischen Landtagsboten, redigirte seit 1848 in Wiesbaden die Nassauische Zeitung, trat dort in die Commission zur Reorganisation des Hoftheaters, wurde 1851 als Mitarbeiter der Allgemeinen Zeitung nach Augsburg berufen, wo er hauptsächlich wissenschaftliche und kritische Abhandlungen für die Beilage schrieb, bis er 1854 von König Maximilian II, der ihm seine besondere Neigung zuwendete, an die Universität München gezogen wurde. 1859 trat er an die Spitze der Commission, welche die seitdem vollendete „Bavaria“, eine sehr zweckmäßig angelegte Beschreibung der bayrischen Lande, herausgegeben hat, und 1862 wählte ihn die Münchener Akademie zu ihrem Mitgliede. Seine bedeutenden Leistungen als culturgeschichtlich-ethnographischer und als musikalischer Schriftsteller sind bekannt. Ein rüstiger Wanderer, durchpilgerte er viele Gaue Deutschlands und schilderte Land und Leute, wie er sie überall mit eigenen Augen gesehen und mit eigenthümlichster Beobachtungsgabe aufgefaßt hatte. Diese Schriften haben sowohl Beifall als Widerspruch gefunden, aber von beiden Seiten wird ihnen gleichmäßig bezeugt, daß sie geistreich, lebendig, voll feiner Züge und auch für den Gegner in hohem Grade anregend seien. Im Anschluß an diese Schilderungen von Volk, Gesellschaft und Familie gab er „Culturgeschichtliche Novellen“, die ihnen gleichsam als illustrirende
Bilder zur Seite gehen sollten. In freierer Bahn der Dichtung, doch immer auf culturhistorischem, deutschgeschichtlichem Boden, gehen seine „Geschichten aus alter Zeit“, welchen er später noch ein „Neues Novellenbuch“ folgen ließ.Diese sämmtlichen Erzählungen erscheinen jetzt (Ende 1871) gesammelt in einer zweibändigen Volksausgabe. Diejenige, die wir hiemit unserer Sammlung einverleiben dürfen, wird sicher nicht verfehlen, durch ihre Originalität und körnige Frische, durch ihre warme Darstellung einer aus tiefster Lebensfinsterniß siegreich hervorbrechenden gemüthlich-sittlichen Tüchtigkeit auch jene Leser, welchen sie nicht mehr neu ist, aufs Neue zu gewinnen.
Erstes Kapitel. Im Jahre 1594 hatte der Stadtschreiber von Nördlingen einen seltsamen Besuch. Ein etwa zwanzigjähriger, baumstarker fremder Bursche, verwahrlos't und zerlumpt, kam eines Morgens auf die Amtsstube, pflanzte sich ohne Gruß dem Schreiber gegenüber und starrte ihn schweigend an.
Auf die barsche Frage: Was willst du? antwortete er eben so barsch: Einen Strick!
Der Stadtschreiber sagte, da sei er fehlgegangen, der Seiler wohne links um die Ecke. Der Bursche aber erwiderte, den Seiler brauche er nicht, sondern den Henker; er wolle gehenkt sein. Dem Stadtschreiber gruselte es, denn er glaubte, der fremde Kerl sei verrückt. Er rief daher einen handfesten Knecht herbei, ehe er das wunderliche Gespräch weiter führte.
Der Fremde bekannte sich nun als einen heimathlosen Landstreicher, von seinen Genossen Jörg Muckenhuber geheißen, und da seine Sprache aus eben so vielen Lappen von allerlei Mundart zusammengeflickt war, wie sein Rock aus alten Tuchlappen, so mußte
man ihm auch wohl ohne Heimathschein glauben, daß er überall und nirgends zu Hause sei.
Er erzählte dann kurz und kalt, daß er vor mehreren Wochen einen reisenden Krämer auf Nördlinger Gebiet ermordet, auch zwischen Augsburg und Kaufbeuern einen wälschen Juden umgebracht habe. Der Jude und der Krämer ließen ihm aber Nachts keine Ruhe mehr: darum wolle er gehenkt sein, und da er den letzten Mord auf Nördlinger Grund und Boden begangen, so könne sich der Rath dieser Reichsstadt auch nicht weigern, ihn an den Nördlinger Galgen zu hängen.
Der Stadtschreiber schimpfte gewaltig und meinte, da könne Jeder gelaufen kommen; die Stadt habe ihren Galgen für ihre eigenen Bürger gebaut und nicht für fremdes Gesindel, ließ aber doch den Muckenhuber in Gewahrsam führen und trug den Handel dem Rathe vor.
Der Rath in corpore konnte zwar anfänglich auch nicht daraus klug werden, ob der Bursche ein Narr sei oder ein verzweifelnder Bösewicht. Da man aber damals Verrückte ohnehin in dasselbe Loch zu werfen pflegte, in welchem Diebe und Mörder saßen, so lag Jörg Muckenhuber einstweilen gut und sicher im Thurm, und die Sache war jedenfalls richtig eingefädelt, mochte auch weiter ans Licht kommen, was da wollte.
Der Folterknecht, der Pfarrer und der Feldscherer, welche den Gefangenen der Reihe nach besuchten und Jeder nach seiner Weise sondirten, erklärten einmüthig,
daß der Bursche zwar äußerst roh und verwahrlost sei, allein von sehr klarem Verstande, und daß er bei seinem Geständniß beharre.
Inzwischen durchlief die Neuigkeit natürlich rasch die Stadt, und die guten Bürger stritten heftig darüber, ob man auch Einen auf sein bloßes Geständniß und dringendes Begehren hängen könne, selbst wenn sich die That, deren er sich anklage, weiter gar nicht erweisen lasse. Denn nirgends war eine Spur von dem angeblich an dem reisenden Krämer verübten Morde aufzufinden.
Auch als man den Muckenhuber unter starker Wache und großem Zulauf hinausführte, daß er den Ort bezeichne, wo er den Krämer erschlagen und die Leiche verscharrt, wußte er zwar durch die feinsten Gründe und Ausreden seine Richter zu verwirren und stutzig zu machen, allein eine thatsächliche Urkunde des Frevels entdeckte man nicht. Der Gefangene aber blieb steif und fest bei seinem Satz, daß er den fremden Krämer auf Nördlinger Boden umgebracht habe und also am Nördlinger Galgen gehenkt werden müsse.
Obgleich die deutschen Reichs-Kleinstädter zu jener Zeit an hochgewürzte kriminalistische Dramen gewöhnt waren wie ans tägliche Brod, so wuchs doch die Spannung über diesen unerhörten Fall von Tag zu Tag; namentlich konnte man die Antwort des Augsburger und Kaufbeuerner Magistrates kaum erwarten, denen das Nördlinger Gericht die Acten zugesandt hatte
mit dem freundnachbarlichen Ersuchen um genaue Forschung nach dem angeblich zwischen beiden Städten an einem wälschen Juden verübten Mord. Allein auch hier hatte man weder von einem wälschen Juden noch von einem Morde das Mindeste aufgespürt.
Weil nun aber im peinlichen Verfahren des sechzehnten Jahrhunderts das eigene Geständniß hoch über jedem anderen Beweise stand, so konnten sich die Richter nicht beruhigen, zumal der Bursche mit immer neuen Gründen den Mangel aller äußeren Anzeichen zu erklären wußte.
Man schritt also zum schärfsten Prüfstein der Wahrheit, zur Folter. Hatte man schon so oft bei Leuten, die keine Verbrecher sein wollten, das Geständniß der Schuld herausgefoltert, warum sollte man nicht auch einmal umgekehrt bei einem Manne, der schlechterdings ein Verbrecher sein wollte, das Geständniß der Unschuld herausfoltern können?
In der Folterkammer aber kam der Nördlinger Rath erst recht vom Regen in die Traufe. Denn bei den Daumschrauben blieb Jörg Muckenhuber bei seinem alten Lied, und als man ihm zur Steigerung weiter die spanischen Stiefel anlegte, begann er sogar noch eine Liste von Räubereien dazu zu bekennen, von denen jede einzelne für sich schon den Galgen verdient hätte. Der Untersuchungsrichter hatte zwar auch noch einen Ritt auf dem scharfkantigen Esel für den Inquisiten in Aussicht genommen, allein aus Furcht, der unbeug-
same Jörg möge dann wohl gar noch etliche Brandstiftungen als Zugabe drein schenken, ließ man's bei den zwei ersten Graden der peinlichen Frage bewenden und führte den triumphirenden Burschen wieder in sein Loch zurück, indeß der Rath rathloser war als zuvor.
Denn obgleich den Klügern nun ein ziemlich Helles Licht aufging, daß Jörg Muckenhuber die ganze Reichsstadt zum Besten habe, so war doch ein solcher Galgenhumor ganz beispiellos. Auch konnte Niemand einen Grund ersinnen, weßhalb der struppige Gesell mit einem Muth und einer Willenskraft ohne Gleichen seinen Hals dem Strick und seine Glieder der Folter darbot. Das war doch selbst für den boshaftesten Spaß zu viel. Dazu kam, daß nicht bloß das angebliche Verbrechen, sondern auch die ganze Person dieses Muckenhuber wie über Nacht aus dem Boden gewachsen erschien. Denn von seiner Herkunft ließ sich eben so wenig eine Spur auffinden, wie von seinen Verbrechen. Einige behaupteten kurzweg, es sei der Teufel selber, der sich den Spaß mache, in dieser Maske ganz Nördlingen an der Nase herumzuführen.
Allein hiermit war der schwierigste Theil der Frage doch nicht gelöst, nämlich, was man denn überhaupt nun mit dem Landstreicher anfangen solle?
Die öffentliche Meinung neigte damals so ziemlich zu dem Satze, daß es im Zweifelfalle besser sei, drei Unschuldige zu hängen, als einen Schuldigen laufen zu lassen. Und überdies war Jörg Muckenhuber unter
allen Umständen schuldig. Denn hatte er jene Mordthaten verübt, dann verdiente er den Galgen; hatte er sie aber nicht verübt, dann verdiente er erst recht den Galgen, weil er den ganzen Rath einer Reichsstadt so fabelhaft zum Narren gehalten hatte. Da man sich aber durchaus nicht einigen konnte, auf welche von diesen beiden Arten er den Galgen verdient habe, so ließ man ihn einstweilen ruhig in seinem Loche sitzen.
Zweites Kapitel. Dort sah es nicht gar freundlich aus. Die Zelle war halb über, halb unter der Erde in einem kleinen Thurm, der nach drei Seiten in einem sumpfigen Wassergraben stand; an Licht hatte das Gemach gerade keinen Ueberfluß, doch fiel durch ein schmales Fensterchen wenigstens so viel Helldunkel herein, daß man an einem sonnigen Mittage einen Tisch von einem Stuhl hätte unterscheiden können, wenn nämlich derlei Luxusgeräthe vorhanden gewesen wären. Desto besser war die Nachbarschaft. Unter der Fensterscharte sangen die Frösche im Sumpfgraben sehr mannigfaltig und vollchörig. Zur Seite aber grenzte ein anderes Gefängniß, von einem alten Weibe bewohnt, welches hartnäckig läugnete, daß sie eine Hexe sei. Ihr sogenanntes Fen-
ster ging gleichfalls auf den Graben, und wenn beide Nachbarn zu ihren Fenstern hinaussprachen, so konnten sie sich recht gut unterhalten, doch ohne einander zu sehen, und Niemand, außer den Fröschen, belauschte ihr Zwiegespräch.
Auf ganz eigene Art hatte dieser Verkehr begonnen. Jörg erhielt nämlich die erste Kunde von seiner Nachbarin, indem er sie laut beten hörte. Es war kein weiches, demüthiges Beten, sondern heftig, fast stürmisch, als ob die Alte eher Befehle als Bitten an unsern Herrgott zu schicken habe. Jörg hatte nie beten gelernt, weder laut noch leise, und anfangs däuchte ihm die Andacht der Alten sehr wunderlich; allmählich aber imponirte es ihm, daß ein altes Weib so nachdrücklich mit Gott zu sprechen sich getraue, und er meinte, die da neben müsse wohl baumstark sein und zehn Männer im Zaum halten können.
Er gab übrigens seinerseits nicht das erste Wort zum Gespräch, sondern wartete, bis die Nachbarin seine Anwesenheit erlauschte und ihn anredete. Auch heroische Weiber plaudern gern. So brachte eine Rede die andere, und bald waren die beiden Leidensgenossen recht vertraut mit einander, ohne daß sie sich jemals gesehen hatten. Das Ohr mußte zugleich Auge sein. Anfangs warf Jörg der Nachbarin manchen trotzigen und spöttischen Satz in die freundliche Ansprache; allein die Alte antwortete immer so mild und doch so überlegen, daß Jörg's Uebermuth bald gezähmt war.
Die vorher verhöhnte Zwiesprach mit der Unbekannten ward ihm zum süßen Bedürfniß. Drei Dinge begannen ihm das harte Herz zu bewegen: die Stille des Kerkers, in welcher er sich selber fand, die Stimme der Natur, tief unten herauf von den Fröschen im Graben, die ihm manchmal wie ein Lockruf zur verlorenen Waldesfreiheit des Landstreichers klang, und die Stimme nebenan aus mitfühlender Menschenbrust.
Doch blieb er fest bei seinem Satze, daß er auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt werden wolle.
Nach etlichen Tagen kannte Jörg schon haarklein die Schicksale seiner Nachbarin, doch schwieg er immer noch hartnäckig über sein eigenes.
Die Alte war die reiche, kinderlose Wittwe des Kronenwirths, Maria Hollin. Mit sechzig Jahren mußte sie den Jammer erleben, als Hexe angeklagt zu werden. Eine reiche Hexe ist eine Rarität. Man hatte aber in Nördlingen seit fünf Jahren fast alle häßlichen und armen Weiber weggebrannt, und da jede Hexe Mitschuldige angeben mußte und der Eifer der Hexenrichter mit der Zahl der Scheiterhaufen wuchs, so kam die Reihe zuletzt auch an die schönen, jungen und reichen Frauen. Unglückliche Frauen gab es da genug, aber so unglücklich und so heldenhaft zugleich, wie Maria Hollin, war keine zweite. Sie hatte achtundfünfzig Mal auf der Folterbank gelegen und doch nichts gestanden! Wohl hatte Jörg Muckenhuber aus dem Ton ihres Gebetes richtig herausgehört, daß sie zehn Männer im
Zaum halten könne. Die Richter waren in Verzweiflung; denn eine achtundfünfzig Mal Gefolterte freizusprechen, das ging doch nicht an, und sie ohne Geständniß zu verurtheilen, eben so wenig.
Dazu kam, daß die Kunde von der Standhaftigkeit der Hollin ins Volk gedrungen war und ihr viel verstohlene Theilnahme erweckt, auch ein leise anwachsendes Murren gegen die gefürchteten Hexenrichter erregt hatte. Bisher war Alles so glatt und nett abgelaufen. Zweiunddreißig Weiber waren angeklagt, gefoltert, überführt, verbrannt worden: keine hatte große Umstände gemacht. Höchstens daß man die Eine oder Andere einmal mit Fußgewichten so lange am Strick ausgerenkt mußte schweben lassen, bis die Richter gefrühstückt hatten. Kamen sie dann vom Frühstück zurück, so erfolgte allemal das offenste Geständniß. Und nun war durch die Halsstarrigkeit dieser Hollin der ganze schöne Rechtsgang auf einmal ins Stocken gerathen! Denn außer ihr war noch eine große Zahl verdächtiger Frauen eingesperrt. Bei dem wachsenden Mißvergnügen des Volkes wagte man aber nicht, neue Processe auf den Rocken zu stecken, bevor nicht der alte abgesponnen war.
Nun mußte gar noch obendrein der Scandal mit dem Muckenhuber aus blauer Luft herunterfallen!
Die Eine wollte ihre Schuld nicht bekennen, und man hätte sie doch so gern verurtheilt; den Andern hätte man so gern laufen lassen, aber selbst auf der
Folter gab er seine Unschuld nicht zu! Der Stadtschreiber meinte, wenn nur der Jörg Muckenhuber auch ein Weibsbild wäre, dann könnte man durch einen kühnen Mißgriff jenen als Hollin verbrennen und diese als Muckenhuber laufen lassen, so hätte ein Jedes seinen Willen und das Gericht sein Recht.
Das Aergerlichste drohte aber dem Rath zu alle Diesem von fernher. Am südöstlichen Horizont, von Regensburg herüber, stieg nämlich ein schweres diplomatisches Unwetter auf. Maria Hollin war nicht von der Gasse aufgelesen, sondern eines Ulmer Amtmannes Tochter, und ihre angesehene Verwandtschaft in jener Reichsstadt, von der Unschuld der Beklagten überzeugt, hatte den Ulmer Magistrat vermocht, beim Nördlinger Rathe Fürsprach einzulegen. Doch das half nicht viel. Denn der Stadtschreiber meinte, es sei gefährlich für die Reputation eines Gerichtes, Jemand achtundfünfzig Mal zu foltern und ihn schließlich nicht einmal etwas anbraten, geschweige verbrennen zu dürfen. Die Ulmer gaben aber keine Ruhe. Zu Regensburg war im selbigen Jahre ein wichtiger Reichstag und Kaiser Rudolf II. in Person gegenwärtig; der Gesandte von Ulm erhielt von seiner Stadt den Auftrag, bei dem Gesandten von Nördlingen zu Gunsten der Hollin zu intercediren, und da er auch hier anfangs abfuhr, so drohte er, Kaiser und Reich gegen die Nördlinger Rechtspflege in Harnisch zu setzen.
Kannte die Hollin diesen Stand der Sache auch
nicht genau, so wußte sie doch, daß mächtige Freunde für sie thätig waren, und diese Ueberzeugung machte ihren Muth erst recht stahlhart. Um so genauer kannten dagegen die Richter den Stand der Sache, und weil sie nicht vorwärts gehen konnten und nicht rückwärts gehen wollten, so blieben sie stehen, ließen den Proceß hängen und sämmtliche Arrestanten sitzen. Durch ein diagonales Entgegenwirken der verschiedensten Kräfte gab es plötzlich unfreiwillige Rechtsferien in Nördlingen.
Auf den Jörg Muckenhuber machte die Geschichte der Hollin einen gewaltigen Eindruck. Vor seinen Richtern hatte er sich bisher einen Helden gedünkt, vor dieser wahren Heldin dagegen kam er sich vor wie ein böser Bube. Aus Trotz und Stolz hatte er vor Jenen seine wirkliche Geschichte verschwiegen; vor diesem Weibe schwieg er aus Scham. Doch konnte er der festen, theilnehmenden Stimme der unsichtbaren Genossin auf die Dauer nicht widerstehen. Sie klang ihm manchmal wie eine Stimme vom Himmel, denn es war eine ächte Menschenstimme, und die war ihm zur Zeit noch so neu wie der Himmel selber.
So ward er endlich zahm und begann der Alten seine wahre Geschichte zu beichten, und ob er wohl wußte, daß die Untersucher gern Gefangene anstiften, um verstockte Mitgefangene auszuhorchen, so wußte er doch auch, die Hollin werde sein Geständniß so treu bei sich behalten, wie die Frösche, welche unten im
Sumpf lauschten. Nur fand er schwer den rechten Anfang.
Zuerst fragte er, ob sie nicht einmal ein Paar verbissene Hunde gesehen, die ihre Zähne so fest in einander geschlagen hätten, daß sie sich immer fester packten, je mehr man sie aus einander prügeln wollte? Er und seine Richter seien ein Paar solcher verbissener Hunde. Der Stadtschreiber allein habe gescheidten Rath ertheilt, indem er gleich am ersten Tag auf Daumschrauben angetragen. Dann hätte er wohl gestanden. Als er aber einmal verbissen gewesen sei mit den Richtern, da habe die Folter so wenig genützt, wie der Prügel, den man auf einen verbissenen Hund wirft. Doch nein, das sei nicht der rechte Anfang.
Nachdem sich Muckenhuber hierauf lange wieder besonnen, erzählte er der Hollin, daß er von Kind auf mit seinen Eltern das frechste Landstreicherleben geführt habe und alle die wilden Freuden eines ruhelos schweifenden Tagediebs ausgenossen, aber auch alle Mühsal, Entbehrung und Schmach. Gemordet habe er nie, auch nie geraubt oder gestohlen, sondern nur mitgenommen, was er gebraucht. Solch ein Treiben werde man bald satt. Er sei zerfallen mit seinen Verwandten und Freunden und mit sich selbst. Herumstreifen wollte er nicht länger, und festsitzen konnte er auch nicht. Das Leben war ihm entleidet, allein sich selber umzubringen, daß man ihn aus dem Wasser ge-
fischt oder im Wald gefunden hätte wie ein crepirtes Vieh, das war auch nicht nach seinem Geschmack.
Nun hatte er oft den Tod am Galgen als den schönsten preisen hören, und wenn seine Genossen von den „besten Männern“ und „Helden“ erzählten, so waren diese Helden immer Leute, welche auf der obersten Sprosse der Galgenleiter die höchste Stufe ihrer Laufbahn erstiegen hatten. Sich hängen lassen, hieß bei den Genossen Hochzeit halten; der Delinquent war der Bräutigam, der Galgen die Braut, der Henkersknecht der Kranzelherr und der Henker der Pfarrer, welcher mit der stärksten Copula, dem Strick, copulirte; der Tanz in der Luft der Hochzeitstanz.
Um dem Leben, welches ihm reizlos geworden, ein glänzendes und ehrenvolles Ende zu machen, ging Jörg nach Nördlingen, als einer wegen hurtiger Justiz damals berühmten Stadt, und meldete sich.
Uebrigens, sagte Jörg, er würde selbst dann keinen Menschen, ja nicht einmal einen Juden umgebracht haben, wenn er auch vorher gewußt hätte, daß man hier so viel Umstände mache. Zuletzt schloß er dann wieder mit dem Satze, womit er begonnen: er habe sich nun verbissen mit den Rathsherren und wolle Recht behalten; hätte man ihn gleich am ersten Tage peinlich gefragt, so würde man die Wahrheit herausgepreßt haben, ja, es hätte damals nur eines Buckels voll Schläge bedurft, aber eines recht tüchtigen Buckels voll. Jetzt möge man ihn mit glühenden Zangen zwicken,
und er werde seine gelogenen zwei Mordthaten aufrecht halten. Diese gehörten ihm jetzt eigen, sie seien sein unantastbarer Besitz, den er mit seinen Schmerzen gekauft und bezahlt habe.
Die Hollin hielt dem Jörg hierauf eine fürchterliche Bußpredigt. Er glaubte nach dem Ton ihrer Stimme, sie müsse jetzt wie der Engel mit dem feurigen Schwert in ihrer dunkeln Zelle stehen. Trotzdem rührte ihn diese Predigt nicht besonders. Viel tiefer zerknirschte es ihn, wenn er in der schweigenden Nacht den Heldenmuth der Hollin und ihre Todesverachtung mit seiner eigenen Geschichte verglich, denn sein starrer Trotz dünkte ihm dann nur die Fratze jenes edeln Muthes. Darum gab er auch der Frau Nachbarin in allen Stücken Recht, wenn sie ihm mit derber Hand am Gewissen rüttelte; nur den anderen Leuten konnte er nicht Recht geben. Und wenn ihn die Hollin verdammte, so schreckte ihn dies fast, als ob er beim jüngsten Gericht verdammt werde; allein vor dem jüngsten Tag wollte er doch erst noch den Nördlingern den Possen spielen und an ihrem Galgen gehenkt sein.
Inzwischen verstrichen Monate. Die beiden Nachbarn kamen sich ungesehen immer näher. Jörg hatte nie einen Menschen so lieb gehabt wie Frau Hollin, vor der er sich doch so tief schämte, und die ihn so erbärmlich abkanzeln konnte, und die alte Frau entdeckte so manch vergrabene Tugend in dem Gemüth des wilden Naturburschen, daß es ihr fast Gewissensangst
machte, sie höre des Guten zu viel aus dem bösen Buben heraus. Zum Trost gelang es ihr, der verstockten Hexe, ihm, dem vor Gericht sich selbst anklagenden Büßer, wenigstens ein klein Stück Christenthum beizubringen, so viel nämlich durch zwei schmale vergitterte Kerkerfenster sich hindurchzuzwängen vermag. Jörg nahm alle Glaubensartikel willig an, blieb aber auch bei seinem eigenen Glaubensartikel, daß er auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt werden müsse.
Drittes Kapitel. Jörg hatte sich mit dem Rathe verbissen und der Rath mit Jörg: aber der Rath hatte sich auch in sich selbst über den Jörg verbissen.
Es bestanden zwei Parteien, die sich dermaßen stritten, daß der Gegenstand des Streites über dem Streit als solchem ganz vergessen ward. Die Einen wollten, wie schon oben erwähnt, den Jörg hängen, weil er gemordet, die Anderen, weil er nicht gemordet habe. Nur der Stadtschreiber bildete — aber ganz im Stillen und für sich allein — eine dritte, vermittelnde Partei. Er wollte den Jörg laufen lassen. Denn, so sprach er zu sich selber, hätte man den Inquisiten gleich am ersten Tage torquirt, so wäre wohl die
Wahrheit ans Licht gekommen: jetzt ist es zu spät; warten wir aber ab, bis die beiden Parteien sich geeint haben, aus welchem Grund der Muckenhuber gehenkt werden solle, so kann er inzwischen im Thurm an Altersschwäche sterben. Den Schaden aber hat die Stadt, welche dem hergelaufenen Kerl so lange frei Kost und Obdach giebt. — Da nun der Stadtschreiber mit feiner Menschenkenntniß weiter schloß, Jürg möge nach so vielen Wochen wohl mürbe und die schmale Küche des Eisenmeisters satt geworden sein, so däuchte ihm die beste Lösung, dem Burschen so ganz von ungefähr die Thür offen zu lassen, daß er davonlaufen könne. Mit dem Gegenstande des Streites werde dann auch der Streit verschwinden, ja, Jedermann werde sich wundern, wie man sich über solch einen Hallunken so lange habe den Kopf zerbrechen können, die Ehre der Justiz sei gerettet und die Rechtfertigung des nachlässigen Eisenmeisters wolle er, der Stadtschreiber, schon auf sich nehmen.
So veranlaßte er es denn, daß die Riegel an Jörg's Kerkerthüre zum öftern nicht vorgeschoben wurden. Jörg merkte es wohl, blieb aber doch sitzen; er wollte auf Nördlinger Grund und Boden gehenkt sein.
Als er jedoch eines Tages seiner Nachbarin von der wachsenden Nachlässigkeit des Eisenmeisters erzählte, kam die Sache in ein anderes Geleis. Mit dem bloßen Gedanken der offenen Thür (wenn auch nicht des eigenen Gefängnisses) erwachte bei Frau Hollin
die ganze mächtige Liebe zur Freiheit. Wenn ich hinaus könnte! rief sie, nicht entfliehen wollte ich; ich wollte fortgehen, um wiederzukommen, um meinen Ulmer Freunden alle die erlittene Schmach zu erzählen, wiederzukommen mit den Zeugnissen und Zeugen meiner Unschuld, — ich will gar nicht einmal die Freiheit, ich will nur meine Ehre und Reputation retten — — ! Sie brachte den Satz nicht recht zu Ende, doch hatte ihn Jörg verstanden.
Schon lange arbeitete er daran, die dünne Scheidewand zwischen den beiden Kerkern zu durchbrechen; er war bisher, bloß mit einem kleinen Stückchen Eisen bewehrt, nur langsam vorgeschritten; nach jenem Ausruf der Hollin aber schaffte er Tag und Nacht mit Riesenkraft, und in der dritten Nacht konnte er's versuchen, durch das Loch, welches er im dunkelsten Winkel geöffnet, hindurchzukriechen.
Da war keine Zeit zu verlieren. Heute Nacht stand Jörg's Thür wieder offen: also gab es kurzen Abschied. Frau Hollin kroch herüber in des Nachbars Zelle. Da umfaßte Jörg, am ganzen Leibe zitternd, des alten Weibes Knie und rief — als wolle er in dieses einzige Wort die ganze Fülle seines Gehorsams und seines Dankes schütten —: Mutter! — und sie fuhr ihm mit der Hand übers Gesicht, im schwarzen Dunkel seine Züge befühlend, und rief: Mein armer, unglücklicher Sohn!
Dann trennten sich die beiden Freunde, die sich
nie gesehen und doch so nahe gestanden. Die kinderlose Wittwe hatte in dieser Stunde zum ersten Mal mit der vollen Empfindung einer Mutter den Kindesnamen ausgesprochen, und der Landstreicher, welcher nie seine Mutter gekannt, zum ersten Mal den Mutternamen in tiefster kindlicher Ehrfurcht.
Frau Hollin verbarg sich in derselben Nacht noch bei treuen Freunden, um mit dem nächsten Tage nach Ulm zu entkommen. Jörg aber schlüpfte hinüber in das leere Hexenkämmerlein, und als am Morgen der Eisenmeister an die Thüre kam, um die karge Speise durch einen Schieber herein zu befördern, kauerte er sich, in den zurückgelassenen Mantel der Frau gehüllt, in die hinterste Ecke, und als der Mann dann weiter zu der Thüre seines eigenen Kerkers ging, schlüpfte er geschwind durch das Mauerloch hinüber und nahm nun als Jörg Muckenhuber die andere Portion in Empfang. So trieb er es fast eine Woche mit vielem Geschick und stillem Vergnügen, wenn ihm nicht der Gram über den Verlust der treuen Nachbarin die Freude erstickt hätte.
Eines Tages öffnete sich jedoch nicht bloß der Schieber, sondern die ganze Thür, und herein trat der Stadtschreiber mit dem Eisenmeister und forderte die Hollin auf, ihm zur Gerichtsstube zu folgen. Jörg spielte seine Rolle weiter, so lange es gehen wollte, drückte sich wie aus höchster Angst in den dunkeln Winkel und wies die Andringenden mit stummer Geberde zurück. Als aber der Stadtschreiber ermunternd
rief: Weib, folge uns getrost, ich führe dich nicht mehr zur Folter, sondern zur Freiheit! da vergaß der Muckenhuber völlig seine Maske, warf den Mantel weg, sprang trotzig hervor und erwiderte, die Fäuste in die Hüften gestemmt, dem erschrockenen Stadtschreiber: Das werdet Ihr wohl bleiben lassen, gehenkt will ich sein, und zwar auf Nördlinger Grund und Boden!
Der Stadtschreiber zerraufte sich das Haar vor Wuth und Aerger, als er sah, daß die Hexe davon gelaufen und der Landstreicher sitzen geblieben war. Er wollte in der That die Hollin zur Freiheit führen, aber zur Freiheit unter gewichtigen Bedingungen, und nun war sie ganz bedingungslos verschwunden, Jörg dagegen, der bedingungslos hätte verschwinden sollen, saß dem Rathe nun wieder auf dem Nacken. Kerl, du bist gar nicht umzubringen! schrie der Stadtschreiber dem Muckenhuber in schäumendem Zorn entgegen. Dieser aber erwiderte ganz kalt: Das eben ist ja meine Klage, daß Ihr's niemals probiren wollt!
Mit dem Proceß der Hollin stand es nun aber folgendergestalt. In Regensburg drängte und drohte man so gewaltig, daß die Mehrheit des Rathes stutzig wurde und gegen die drei Mitglieder, welche die ganze Hexentragödie aufgebracht und seit fünf Jahren als wahre Schreckensherrscher fortgespielt hatten, Front zu machen begann. Die immer stürmischeren Beschwerden des Volkes, welches wie aus einem Fiebertraum erwachte, ermuthigten jene Mehrheit, und die Hexenrichter
sahen nur zu klar, daß ihr Regiment zu Ende gehe, und daß sie an ihre eigene Sicherheit denken müßten. Sie wollten daher die Hollin freigeben unter der Bedingung, daß selbige eine Urkunde unterschreibe und beschwöre folgenden Inhalts: Sie nehme ihre Freiheit als Gnade für Recht, wolle niemals anderweit Klage erheben gegen ihre Richter, noch sich persönlich an ihnen rächen, die Stadt binnen vierundzwanzig Stunden verlassen, dazu gelobe sie über den ganzen Verlauf des Processes ewiges Stillschweigen. Von einem geängsteten alten Weib, welches hinter sich die Folter hatte und vor sich den Scheiterhaufen sah, glaubte man leicht Schwur und Unterschrift zu so billigen Bedingungen erhalten zu können. Groß war daher der Schreck, als man hörte, die Hollin sei entflohen; denn nun konnte sie von außen her Beschwerde führen und das Volk aufhetzen, so viel sie wollte.
Der Stadtschreiber stand wie ein begossener Pudel vor seinen Amtsbrüdern, als er ihnen statt der Alten den Jörg Muckenhuber auf die Gerichtsstube brachte. Die Rathsherren machten sich gegenseitig die bittersten Vorwürfe, erst leise, dann lauter, zuletzt wuchs der Sturm, und Alle schrieen durch einander, wie in der Judenschule. Da schaffte der Stadtschreiber, mit seinem tiefen Baß das ganze Stimmengewirr übertönend, plötzlich Ruhe und einigte die Zänker durch ein Wort wie mit Einem Schlag. Er rief: An alle diesem Unheil ist nur der Muckenhuber Schuld. Hängt ihn auf, wenn
er nicht augenblicks seine alten Geständnisse widerruft! Jörg entgegnete: Ich widerrufe nicht! und als ihn der Stadtschreiber zum zweiten Mal fragte: Jetzt widerruf' ich erst recht nicht! und zum dritten Mal — —
Da stand, wie aus dem Boden gewachsen, die alte Hollin in der Stube, geführt von zwei der angesehensten Bürger aus Nördlingen und Ulm. Sie sah dem Muckenhuber scharf ins Auge und sagte ihm mit festem Ton: Jörg, du wirst dein falsches Geständniß widerrufen! Die Stimme traf den verbissenen Burschen wie ein Donnerstreich. Er schwieg lange und schlug die Augen nieder. Alles schwieg; man hörte nur die leisen Athemzüge — dann sprach er: Keine andere Macht der Welt hätte mich zum Widerruf bringen können, aber dieser Frau kann ich nicht ins Gesicht lügen; — ich widerrufe!
Inzwischen wuchs von außen das Getümmel der Menge, welche unter den wildesten Drohworten gegen den Rath die augenblickliche Freilassung der Frau Hollin begehrte. Die Herren spürten Gefahr auf dem Verzug. Nach kurzem geheimen Wortwechsel las daher der Stadtschreiber der Alten im artigsten Ton jene Urkunde vor, welche sie beschwören sollte. Frau Hollin aber erwiderte, sie fordere Recht und keine Gnade, sie habe sich auch nur gestellt, damit man ihren Proceß in aller Form zu Ende führen könne; diese Schrift beschwöre sie nicht.
Die Herren vom Rath machten sehr lange Ge-
sichter und wollten sich aufs Ueberreden legen, wußten aber schon von früher, daß bei dieser Frau Ueberreden nicht viel verfange.
Da sah die Alte, daß der Eisenmeister dem Muckenhuber schwere Ketten anlegte, um ihn in festeren Gewahrsam zurück zu bringen, und der gebrochene Blick, mit welchem er zu ihr herüberschaute, fiel ihr schwer aufs Herz. Nach kurzem Besinnen sprach sie zu den Richtern: Ihr Herren habt euch bei mir aufs Unterhandeln gelegt, ihr seid also gar keine ordentlichen Richter mehr; denn Richter unterhandeln nicht. Seid ihr aber keine Richter, so könnt ihr mir auch kein Recht mehr schaffen. Wohlan, auch ich lege mich aufs Unterhandeln: gebt mir dort den bösen Buben frei, ich will ihn an Kindesstatt annehmen und mit mir nach Ulm führen und sehen, ob ich ihn besser erziehen kann, als ihr. Mein Vermögen hat todt gelegen während der elf Monate, da ich im Thurme saß, ihr solltet mir wohl die Zinsen vergüten, die ich inzwischen verloren habe: gebt mir diesen bösen Buben mit, ich will ihn als den Zins nehmen, welchen Gott während meines Leidens meinem Besitzthum hat zuwachsen lassen. Unter dieser Bedingung beschwöre und unterzeichne ich Eure Schrift.
Schon stürmten drohende Volkshaufen in die Vorhalle des Hauses. Dem Rath wäre keine Wahl geblieben, auch wenn die Hollin ganz andere Dinge begehrt hätte.
Als sie die Urkunde unterzeichnete, fand sie noch die Rechnung beigelegt über ihre Verköstigung während der elfmonatlichen Haft. Sie reichte jedoch das Blatt mit artigem Lächeln dem Stadtschreiber zurück, und da die Menge bereits an der Thür pochte, so zerpflückte derselbe die interessante Beilage möglichst geschwind und streute die Stückchen unter den Tisch.
Dem Jörg hatte man derweil die Ketten wieder abgenommen; er schaute umher wie im Traum und ließ sich Alles schweigend gefallen.
Frau Hollin nahm ihn bei der Hand und ging zur Thür, wo Beide von der hereindrängenden Menge jubelnd empfangen wurden. Der Stadtschreiber wollte auch jetzt noch zeigen, daß er doch nicht gar aufs Maul geschlagen sei, und rief halblaut den Abgehenden nach: Nun findet dies edle Pflegkind in Ulm doch wenigstens einen Galgen, an welchem es heimathberechtigt ist.
Frau Hollin hatte ihn wohl verstanden, darum kehrte sie sich in der Thür noch einmal zurück und rief mit erhobenem Ton: Stadtschreiber, man sollte Euch auch einmal elf Monate einsperren, damit Ihr des Menschen Herz kennen lerntet. Ihr würdet dann vielleicht finden, es giebt Leute, die verachten den Tod und begehren ihn zugleich, so öd und reizlos ist ihr rohes Leben, Andere dagegen haben die wahre Herrlichkeit des Lebens so reich geschmeckt und so gewaltigen Lebensmuth dadurch gewonnen, daß sie darum den Tod verachten, den sie nicht gesucht. Jene schreckt der Tod
nicht, weil sie noch gar nicht leben gelernt haben; diese aber schreckt er noch viel minder, weil sie so ganz zu leben verstehen. Ich will diesen meinen Sohn nun leben lehren, damit er den Tod, welchen er in der ersten, wilden Weise so wohl zu verachten gewußt, auch in der anderen, feinen Weise eines wahren Christen verachten lerne.
Die Alte hielt Wort. Jörg ward in ihrem Hause ein redlicher und tapferer Mann, der seiner neuen Vaterstadt Ulm im ersten Jahrzehnt des dreißigjährigen Krieges große Dienste leistete, daß man dort seines Namens noch lange in Dank und Ehren gedachte. Die Nördlinger Hexenrichter aber mußten ihr Amt niederlegen, der ganze Magistrat ward gereinigt und erneuert, und auf jene fünf Jahre des Schreckens folgte ein besseres Jahrzehnt, in welchem Recht und Gerechtigkeit wieder herrschten in der altehrwürdigen Reichsstadt.