Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Der geometrische Stil.
mehr Bahn brechenden Erkenntniss noch jünger sind und zu den
mittelländischen vielfach im Abhängigkeitsverhältniss stehen.

Mit Monumenten lässt sich also die Zeit und der Process, worin
sich die supponirte Entstehung des Musters aus einer Textil-Technik
vollzogen hat, nicht belegen. Nichts beweist uns, dass die aus den

[Abbildung] Fig. 1.

Dolchgriff in Rennthierknochen geschnitzt.
Laugerie-Basse.

Mittelmeerländern und Nordeuropa vor-
liegenden prähistorischen Funde uns das
älteste Kunstschaffen in jenen Gegenden
repräsentiren, und dass nicht ebenda-
selbst in noch früheren Zeiten ein wesent-
lich anderes Kunstschaffen bestanden
haben könnte. Ja noch mehr: es giebt
Monumente, welche der Annahme, dass
der geometrische Stil in Europa der
älteste Kunststil gewesen wäre, direkt
widersprechen.

Es ist heute über jeden Zweifel hin-
aus erwiesen, dass es menschliche Ge-
schlechter gegeben hat, die ein sehr be-
merkenswerthes Kunstschaffen entwickelt
haben, ohne dass eine textile Technik
(mit Ausnahme des Zusammennähens
von Thierhäuten) bei ihnen bisher nach-
gewiesen werden konnte. Der Schutz
des Leibes, den man als ein so elemen-
tares Bedürfniss, als Bahnbrecher für
die erste älteste Technik, für die Textil-
kunst zu betrachten pflegt, wurde den-
selben augenscheinlich durch andere
Dinge gewährleistet, als durch den ge-
flochtenen Pferch und durch gewebte
Gewänder. Dieses Geschlecht von Men-
schen wohnte in Höhlen und bekleidete
sich mit den Häuten der erlegten Jagd-
thiere. Die Niedrigkeit der sittlichen Kulturstufe dieser Völker kann
man daran erkennen, dass sie das Mark aus den Knochen der erlegten
Thiere saugten, und das verschmähte Fleisch in ihren eigenen Wohn-
höhlen verfaulen liessen. Es ist eine Art Kannibalismus, der uns da
entgegentritt. Die Häute wussten diese Höhlenbewohner zusammenzu-

Der geometrische Stil.
mehr Bahn brechenden Erkenntniss noch jünger sind und zu den
mittelländischen vielfach im Abhängigkeitsverhältniss stehen.

Mit Monumenten lässt sich also die Zeit und der Process, worin
sich die supponirte Entstehung des Musters aus einer Textil-Technik
vollzogen hat, nicht belegen. Nichts beweist uns, dass die aus den

[Abbildung] Fig. 1.

Dolchgriff in Rennthierknochen geschnitzt.
Laugerie-Basse.

Mittelmeerländern und Nordeuropa vor-
liegenden prähistorischen Funde uns das
älteste Kunstschaffen in jenen Gegenden
repräsentiren, und dass nicht ebenda-
selbst in noch früheren Zeiten ein wesent-
lich anderes Kunstschaffen bestanden
haben könnte. Ja noch mehr: es giebt
Monumente, welche der Annahme, dass
der geometrische Stil in Europa der
älteste Kunststil gewesen wäre, direkt
widersprechen.

Es ist heute über jeden Zweifel hin-
aus erwiesen, dass es menschliche Ge-
schlechter gegeben hat, die ein sehr be-
merkenswerthes Kunstschaffen entwickelt
haben, ohne dass eine textile Technik
(mit Ausnahme des Zusammennähens
von Thierhäuten) bei ihnen bisher nach-
gewiesen werden konnte. Der Schutz
des Leibes, den man als ein so elemen-
tares Bedürfniss, als Bahnbrecher für
die erste älteste Technik, für die Textil-
kunst zu betrachten pflegt, wurde den-
selben augenscheinlich durch andere
Dinge gewährleistet, als durch den ge-
flochtenen Pferch und durch gewebte
Gewänder. Dieses Geschlecht von Men-
schen wohnte in Höhlen und bekleidete
sich mit den Häuten der erlegten Jagd-
thiere. Die Niedrigkeit der sittlichen Kulturstufe dieser Völker kann
man daran erkennen, dass sie das Mark aus den Knochen der erlegten
Thiere saugten, und das verschmähte Fleisch in ihren eigenen Wohn-
höhlen verfaulen liessen. Es ist eine Art Kannibalismus, der uns da
entgegentritt. Die Häute wussten diese Höhlenbewohner zusammenzu-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0042" n="16"/><fw place="top" type="header">Der geometrische Stil.</fw><lb/>
mehr Bahn brechenden Erkenntniss noch jünger sind und zu den<lb/>
mittelländischen vielfach im Abhängigkeitsverhältniss stehen.</p><lb/>
        <p>Mit Monumenten lässt sich also die Zeit und der Process, worin<lb/>
sich die supponirte Entstehung des Musters aus einer Textil-Technik<lb/>
vollzogen hat, nicht belegen. Nichts beweist uns, dass die aus den<lb/><figure><head>Fig. 1.</head><lb/><p>Dolchgriff in Rennthierknochen geschnitzt.<lb/>
Laugerie-Basse.</p></figure><lb/>
Mittelmeerländern und Nordeuropa vor-<lb/>
liegenden prähistorischen Funde uns das<lb/>
älteste Kunstschaffen in jenen Gegenden<lb/>
repräsentiren, und dass nicht ebenda-<lb/>
selbst in noch früheren Zeiten ein wesent-<lb/>
lich anderes Kunstschaffen bestanden<lb/>
haben könnte. Ja noch mehr: es giebt<lb/>
Monumente, welche der Annahme, dass<lb/>
der geometrische Stil in Europa der<lb/>
älteste Kunststil gewesen wäre, direkt<lb/>
widersprechen.</p><lb/>
        <p>Es ist heute über jeden Zweifel hin-<lb/>
aus erwiesen, dass es menschliche Ge-<lb/>
schlechter gegeben hat, die ein sehr be-<lb/>
merkenswerthes Kunstschaffen entwickelt<lb/>
haben, ohne dass eine textile Technik<lb/>
(mit Ausnahme des Zusammennähens<lb/>
von Thierhäuten) bei ihnen bisher nach-<lb/>
gewiesen werden konnte. Der Schutz<lb/>
des Leibes, den man als ein so elemen-<lb/>
tares Bedürfniss, als Bahnbrecher für<lb/>
die erste älteste Technik, für die Textil-<lb/>
kunst zu betrachten pflegt, wurde den-<lb/>
selben augenscheinlich durch andere<lb/>
Dinge gewährleistet, als durch den ge-<lb/>
flochtenen Pferch und durch gewebte<lb/>
Gewänder. Dieses Geschlecht von Men-<lb/>
schen wohnte in Höhlen und bekleidete<lb/>
sich mit den Häuten der erlegten Jagd-<lb/>
thiere. Die Niedrigkeit der sittlichen Kulturstufe dieser Völker kann<lb/>
man daran erkennen, dass sie das Mark aus den Knochen der erlegten<lb/>
Thiere saugten, und das verschmähte Fleisch in ihren eigenen Wohn-<lb/>
höhlen verfaulen liessen. Es ist eine Art Kannibalismus, der uns da<lb/>
entgegentritt. Die Häute wussten diese Höhlenbewohner zusammenzu-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[16/0042] Der geometrische Stil. mehr Bahn brechenden Erkenntniss noch jünger sind und zu den mittelländischen vielfach im Abhängigkeitsverhältniss stehen. Mit Monumenten lässt sich also die Zeit und der Process, worin sich die supponirte Entstehung des Musters aus einer Textil-Technik vollzogen hat, nicht belegen. Nichts beweist uns, dass die aus den [Abbildung Fig. 1. Dolchgriff in Rennthierknochen geschnitzt. Laugerie-Basse.] Mittelmeerländern und Nordeuropa vor- liegenden prähistorischen Funde uns das älteste Kunstschaffen in jenen Gegenden repräsentiren, und dass nicht ebenda- selbst in noch früheren Zeiten ein wesent- lich anderes Kunstschaffen bestanden haben könnte. Ja noch mehr: es giebt Monumente, welche der Annahme, dass der geometrische Stil in Europa der älteste Kunststil gewesen wäre, direkt widersprechen. Es ist heute über jeden Zweifel hin- aus erwiesen, dass es menschliche Ge- schlechter gegeben hat, die ein sehr be- merkenswerthes Kunstschaffen entwickelt haben, ohne dass eine textile Technik (mit Ausnahme des Zusammennähens von Thierhäuten) bei ihnen bisher nach- gewiesen werden konnte. Der Schutz des Leibes, den man als ein so elemen- tares Bedürfniss, als Bahnbrecher für die erste älteste Technik, für die Textil- kunst zu betrachten pflegt, wurde den- selben augenscheinlich durch andere Dinge gewährleistet, als durch den ge- flochtenen Pferch und durch gewebte Gewänder. Dieses Geschlecht von Men- schen wohnte in Höhlen und bekleidete sich mit den Häuten der erlegten Jagd- thiere. Die Niedrigkeit der sittlichen Kulturstufe dieser Völker kann man daran erkennen, dass sie das Mark aus den Knochen der erlegten Thiere saugten, und das verschmähte Fleisch in ihren eigenen Wohn- höhlen verfaulen liessen. Es ist eine Art Kannibalismus, der uns da entgegentritt. Die Häute wussten diese Höhlenbewohner zusammenzu-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/42
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/42>, abgerufen am 26.04.2024.