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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
gestellter Annahme der neuesten Forscher auf diesem Gebiete etwa in
die jüngere Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Ch. zu setzen. Wir gelangen
also mit den geritzten geometrischen Verzierungen von Cypern und
Hissarlik gewiss nicht weit in das dritte Jahrtausend v. Chr. zurück. Ist
dies ein Zeitalter, in das wir am Mittelmeere die erste Erfindung des
Musters herabrücken dürfen? Hat nicht schon mindestens ein Jahr-
tausend früher im Nilthale eine Kunst geblüht, die weit über das geo-
metrische Stadium hinaus gediehen war? Es ist eine ganz willkürliche,
durch nichts bewiesene Annahme, dass die geometrischen Verzierungen
auf den bisher gefundenen mittelländischen Thonscherben auf diese
letzteren von den Erzeugnissen der Textilkunst übertragen worden
seien. Ein Material, das auch nur entfernt an jene Zeiten heranreichen
würde, in denen das erste Muster in die Welt gekommen ist, steht uns
-- etwa mit einziger Ausnahme der noch zu besprechenden Höhlenfunde
aus der Dordogne -- heute nirgends zur Verfügung. Man kann an die
Theorie von der Textiltechnik als der ältesten musterbildenden Technik
glauben, aber das keramische Material aus den Mittelmeerländern darf
man nicht zur Illustration und zum Beweise jener Theorie heranziehen.
Gehen die betreffenden Vasenornamente in der That auf technische
Textilprodukte zurück, so hat sich der bezügliche Process gewiss schon
Jahrtausende früher vollzogen, als die hiehergehörigen Vasen entstan-
den sind.

Freilich herrscht ein grosser Unterschied in der Kulturfähigkeit
der Völker, -- ein Unterschied der nur zu einem Theile von den
äusseren Verhältnissen (klimatischen, geographischen u. dgl.) unter denen
sie leben, bedingt ist. Aber auf der Insel Cypern etwa um 2000 oder
selbst um 3000 v. Chr. ein Volk zu suchen, dass bis dahin kein Muster
gesehen hätte oder an einem gesehenen achtlos vorübergegangen wäre
und nunmehr erst sich spontan zur Erschaffung von Flächenmustern
aufgerafft hätte, wird man sich ebensowenig entschliessen können, als
man die in den assyrischen Trümmerstätten oder in Jerusalem ge-
fundenen Vasen mit geometrischen Ornamenten, deren Entstehung doch
in die Zeit höchster orientalischer Kunstblüthe fällt, als unmittelbare
Uebertragungen aus der Textilkunst aufzufassen vermag. Noch weniger
als die geometrisch verzierten Vasenscherben aus den Mittelmeerländern
wird man die ähnlich ausgestatteten Thon- und Metallfunde aus der
nord- und mitteleuropäischen Bronzezeit als Zeugnisse einer unmittel-
baren Uebertragung der Linienornamente von Textilgegenständen auf
anderes Material ansehen dürfen, da diese Funde gemäss der sich immer

Der geometrische Stil.
gestellter Annahme der neuesten Forscher auf diesem Gebiete etwa in
die jüngere Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Ch. zu setzen. Wir gelangen
also mit den geritzten geometrischen Verzierungen von Cypern und
Hissarlik gewiss nicht weit in das dritte Jahrtausend v. Chr. zurück. Ist
dies ein Zeitalter, in das wir am Mittelmeere die erste Erfindung des
Musters herabrücken dürfen? Hat nicht schon mindestens ein Jahr-
tausend früher im Nilthale eine Kunst geblüht, die weit über das geo-
metrische Stadium hinaus gediehen war? Es ist eine ganz willkürliche,
durch nichts bewiesene Annahme, dass die geometrischen Verzierungen
auf den bisher gefundenen mittelländischen Thonscherben auf diese
letzteren von den Erzeugnissen der Textilkunst übertragen worden
seien. Ein Material, das auch nur entfernt an jene Zeiten heranreichen
würde, in denen das erste Muster in die Welt gekommen ist, steht uns
— etwa mit einziger Ausnahme der noch zu besprechenden Höhlenfunde
aus der Dordogne — heute nirgends zur Verfügung. Man kann an die
Theorie von der Textiltechnik als der ältesten musterbildenden Technik
glauben, aber das keramische Material aus den Mittelmeerländern darf
man nicht zur Illustration und zum Beweise jener Theorie heranziehen.
Gehen die betreffenden Vasenornamente in der That auf technische
Textilprodukte zurück, so hat sich der bezügliche Process gewiss schon
Jahrtausende früher vollzogen, als die hiehergehörigen Vasen entstan-
den sind.

Freilich herrscht ein grosser Unterschied in der Kulturfähigkeit
der Völker, — ein Unterschied der nur zu einem Theile von den
äusseren Verhältnissen (klimatischen, geographischen u. dgl.) unter denen
sie leben, bedingt ist. Aber auf der Insel Cypern etwa um 2000 oder
selbst um 3000 v. Chr. ein Volk zu suchen, dass bis dahin kein Muster
gesehen hätte oder an einem gesehenen achtlos vorübergegangen wäre
und nunmehr erst sich spontan zur Erschaffung von Flächenmustern
aufgerafft hätte, wird man sich ebensowenig entschliessen können, als
man die in den assyrischen Trümmerstätten oder in Jerusalem ge-
fundenen Vasen mit geometrischen Ornamenten, deren Entstehung doch
in die Zeit höchster orientalischer Kunstblüthe fällt, als unmittelbare
Uebertragungen aus der Textilkunst aufzufassen vermag. Noch weniger
als die geometrisch verzierten Vasenscherben aus den Mittelmeerländern
wird man die ähnlich ausgestatteten Thon- und Metallfunde aus der
nord- und mitteleuropäischen Bronzezeit als Zeugnisse einer unmittel-
baren Uebertragung der Linienornamente von Textilgegenständen auf
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[15/0041] Der geometrische Stil. gestellter Annahme der neuesten Forscher auf diesem Gebiete etwa in die jüngere Hälfte des zweiten Jahrtausends v. Ch. zu setzen. Wir gelangen also mit den geritzten geometrischen Verzierungen von Cypern und Hissarlik gewiss nicht weit in das dritte Jahrtausend v. Chr. zurück. Ist dies ein Zeitalter, in das wir am Mittelmeere die erste Erfindung des Musters herabrücken dürfen? Hat nicht schon mindestens ein Jahr- tausend früher im Nilthale eine Kunst geblüht, die weit über das geo- metrische Stadium hinaus gediehen war? Es ist eine ganz willkürliche, durch nichts bewiesene Annahme, dass die geometrischen Verzierungen auf den bisher gefundenen mittelländischen Thonscherben auf diese letzteren von den Erzeugnissen der Textilkunst übertragen worden seien. Ein Material, das auch nur entfernt an jene Zeiten heranreichen würde, in denen das erste Muster in die Welt gekommen ist, steht uns — etwa mit einziger Ausnahme der noch zu besprechenden Höhlenfunde aus der Dordogne — heute nirgends zur Verfügung. Man kann an die Theorie von der Textiltechnik als der ältesten musterbildenden Technik glauben, aber das keramische Material aus den Mittelmeerländern darf man nicht zur Illustration und zum Beweise jener Theorie heranziehen. Gehen die betreffenden Vasenornamente in der That auf technische Textilprodukte zurück, so hat sich der bezügliche Process gewiss schon Jahrtausende früher vollzogen, als die hiehergehörigen Vasen entstan- den sind. Freilich herrscht ein grosser Unterschied in der Kulturfähigkeit der Völker, — ein Unterschied der nur zu einem Theile von den äusseren Verhältnissen (klimatischen, geographischen u. dgl.) unter denen sie leben, bedingt ist. Aber auf der Insel Cypern etwa um 2000 oder selbst um 3000 v. Chr. ein Volk zu suchen, dass bis dahin kein Muster gesehen hätte oder an einem gesehenen achtlos vorübergegangen wäre und nunmehr erst sich spontan zur Erschaffung von Flächenmustern aufgerafft hätte, wird man sich ebensowenig entschliessen können, als man die in den assyrischen Trümmerstätten oder in Jerusalem ge- fundenen Vasen mit geometrischen Ornamenten, deren Entstehung doch in die Zeit höchster orientalischer Kunstblüthe fällt, als unmittelbare Uebertragungen aus der Textilkunst aufzufassen vermag. Noch weniger als die geometrisch verzierten Vasenscherben aus den Mittelmeerländern wird man die ähnlich ausgestatteten Thon- und Metallfunde aus der nord- und mitteleuropäischen Bronzezeit als Zeugnisse einer unmittel- baren Uebertragung der Linienornamente von Textilgegenständen auf anderes Material ansehen dürfen, da diese Funde gemäss der sich immer

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/41>, abgerufen am 23.11.2024.