Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.Der geometrische Stil. tungen entstanden sein mochten, hat Semper, wie schon erwähnt wurde,nicht versucht, und ebensowenig seine zahlreichen Nachfolger, bis auf die in jüngster Zeit erfolgten Ausführungen Kekule's mit denen wir uns noch im Besonderen beschäftigen werden. Das Raisonnement lautete ungefähr folgendermaassen: Im Anfange war keine Kunst, sondern bloss Handwerk (nicht in wirthschaftlichem, sondern in technischem Sinne gemeint). Das älteste Handwerk war das textile. Mit dem Zaungeflecht und dem gewebten Gewande kamen die geradlinigen planimetrischen Ziermotive in die Welt, die der Mensch dann, angezogen durch ihre formale Schönheit, auf andere Stoffe und Techniken übertrug. Das Material, mit welchem man diese Theorie zu illustriren pflegt, Von demjenigen Stil, der früher als der geometrische im engeren Aber die Ausgrabungen Schliemann's und Anderer haben uns be- Der geometrische Stil. tungen entstanden sein mochten, hat Semper, wie schon erwähnt wurde,nicht versucht, und ebensowenig seine zahlreichen Nachfolger, bis auf die in jüngster Zeit erfolgten Ausführungen Kekulé’s mit denen wir uns noch im Besonderen beschäftigen werden. Das Raisonnement lautete ungefähr folgendermaassen: Im Anfange war keine Kunst, sondern bloss Handwerk (nicht in wirthschaftlichem, sondern in technischem Sinne gemeint). Das älteste Handwerk war das textile. Mit dem Zaungeflecht und dem gewebten Gewande kamen die geradlinigen planimetrischen Ziermotive in die Welt, die der Mensch dann, angezogen durch ihre formale Schönheit, auf andere Stoffe und Techniken übertrug. Das Material, mit welchem man diese Theorie zu illustriren pflegt, Von demjenigen Stil, der früher als der geometrische im engeren Aber die Ausgrabungen Schliemann’s und Anderer haben uns be- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0040" n="14"/><fw place="top" type="header">Der geometrische Stil.</fw><lb/> tungen entstanden sein mochten, hat Semper, wie schon erwähnt wurde,<lb/> nicht versucht, und ebensowenig seine zahlreichen Nachfolger, bis auf<lb/> die in jüngster Zeit erfolgten Ausführungen Kekulé’s mit denen wir<lb/> uns noch im Besonderen beschäftigen werden. Das Raisonnement lautete<lb/> ungefähr folgendermaassen: Im Anfange war keine Kunst, sondern bloss<lb/> Handwerk (nicht in wirthschaftlichem, sondern in technischem Sinne<lb/> gemeint). Das älteste Handwerk war das textile. Mit dem Zaungeflecht<lb/> und dem gewebten Gewande kamen die geradlinigen planimetrischen<lb/> Ziermotive in die Welt, die der Mensch dann, angezogen durch ihre<lb/> formale Schönheit, auf andere Stoffe und Techniken übertrug.</p><lb/> <p>Das Material, mit welchem man diese Theorie zu illustriren pflegt,<lb/> ist überwiegend ein keramisches, zum geringeren Theile ein metallur-<lb/> gisches. Thonvasen und Vasenscherben, die man in vorhistorischen<lb/> Schichten des Erdbodens fast aller Mittelmeerländer gefunden hat,<lb/> tragen überwiegend Ornamente des geometrischen Stils zur Schau.<lb/> Sollen diese Ornamente in der That unmittelbare Ableitungen aus den<lb/> textilen Verflechtungen und Fadenkreuzungen sein, so müsste ihre Ent-<lb/> stehung in sehr, sehr frühe Zeit zurückgehen. Das Werden des Musters<lb/> aus dem Flechten und Weben soll ja am Anfange alles Kunstschaffens<lb/> gestanden sein. Reichen nun die keramischen Funde aus den Mittel-<lb/> meerländern in der That auch nur annähernd in so frühe Zeit zurück?</p><lb/> <p>Von demjenigen Stil, der früher als der geometrische im engeren<lb/> Sinne galt, vom Dipylon, wird jetzt niemand mehr ein höheres Alter<lb/> behaupten. Ob seine Verbreiter in Griechenland — nehmen wir an die<lb/> einwandernden Dorer — diesen Stil in unvordenklich früheren Zeiten<lb/> aus der Textilkunst erfunden haben, mag einstweilen dahingestellt<lb/> bleiben. Zweifellos ist das Dipylon des ersten Jahrtausends v. Chr.<lb/> kein primitiver, sondern ein wohl überlegter, festgeschlossener, raffi-<lb/> nirter Kunststil. Ein Volk, das die Metalle zu bearbeiten verstand,<lb/> wird nicht erst die primitivsten Ornamente aus der primitivsten Technik<lb/> erfunden haben.</p><lb/> <p>Aber die Ausgrabungen Schliemann’s und Anderer haben uns be-<lb/> lehrt, dass das Dipylon bei weitem nicht der älteste geometrische Stil<lb/> bei den Mittelmeervölkern gewesen ist. Als solcher gelten gegenwärtig<lb/> die gravirten <choice><sic>Linienverzierungeu</sic><corr>Linienverzierungen</corr></choice> auf Gefässen, die in den untersten<lb/> Schichten von Hissarlik und in gewissen Nekropolen Cyperns gefunden<lb/> worden sind. Wie steht es nun mit dem Alter dieser Gefässe? Gemäss<lb/> den Fundberichten ist auf das Zeitalter derselben alsbald der myke-<lb/> nische Stil gefolgt. Der mykenische Stil ist aber nach ziemlich sicher-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [14/0040]
Der geometrische Stil.
tungen entstanden sein mochten, hat Semper, wie schon erwähnt wurde,
nicht versucht, und ebensowenig seine zahlreichen Nachfolger, bis auf
die in jüngster Zeit erfolgten Ausführungen Kekulé’s mit denen wir
uns noch im Besonderen beschäftigen werden. Das Raisonnement lautete
ungefähr folgendermaassen: Im Anfange war keine Kunst, sondern bloss
Handwerk (nicht in wirthschaftlichem, sondern in technischem Sinne
gemeint). Das älteste Handwerk war das textile. Mit dem Zaungeflecht
und dem gewebten Gewande kamen die geradlinigen planimetrischen
Ziermotive in die Welt, die der Mensch dann, angezogen durch ihre
formale Schönheit, auf andere Stoffe und Techniken übertrug.
Das Material, mit welchem man diese Theorie zu illustriren pflegt,
ist überwiegend ein keramisches, zum geringeren Theile ein metallur-
gisches. Thonvasen und Vasenscherben, die man in vorhistorischen
Schichten des Erdbodens fast aller Mittelmeerländer gefunden hat,
tragen überwiegend Ornamente des geometrischen Stils zur Schau.
Sollen diese Ornamente in der That unmittelbare Ableitungen aus den
textilen Verflechtungen und Fadenkreuzungen sein, so müsste ihre Ent-
stehung in sehr, sehr frühe Zeit zurückgehen. Das Werden des Musters
aus dem Flechten und Weben soll ja am Anfange alles Kunstschaffens
gestanden sein. Reichen nun die keramischen Funde aus den Mittel-
meerländern in der That auch nur annähernd in so frühe Zeit zurück?
Von demjenigen Stil, der früher als der geometrische im engeren
Sinne galt, vom Dipylon, wird jetzt niemand mehr ein höheres Alter
behaupten. Ob seine Verbreiter in Griechenland — nehmen wir an die
einwandernden Dorer — diesen Stil in unvordenklich früheren Zeiten
aus der Textilkunst erfunden haben, mag einstweilen dahingestellt
bleiben. Zweifellos ist das Dipylon des ersten Jahrtausends v. Chr.
kein primitiver, sondern ein wohl überlegter, festgeschlossener, raffi-
nirter Kunststil. Ein Volk, das die Metalle zu bearbeiten verstand,
wird nicht erst die primitivsten Ornamente aus der primitivsten Technik
erfunden haben.
Aber die Ausgrabungen Schliemann’s und Anderer haben uns be-
lehrt, dass das Dipylon bei weitem nicht der älteste geometrische Stil
bei den Mittelmeervölkern gewesen ist. Als solcher gelten gegenwärtig
die gravirten Linienverzierungen auf Gefässen, die in den untersten
Schichten von Hissarlik und in gewissen Nekropolen Cyperns gefunden
worden sind. Wie steht es nun mit dem Alter dieser Gefässe? Gemäss
den Fundberichten ist auf das Zeitalter derselben alsbald der myke-
nische Stil gefolgt. Der mykenische Stil ist aber nach ziemlich sicher-
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