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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
prüfen. In diesem Capitel über den geometrischen Stil haben wir es
bloss mit der Ableitung der geradlinigen geometrischen Motive aus den
textilen Techniken zu thun.

Auf welche Weise sollen nun die Motive des geometrischen Stils
aus den textilen Techniken hervorgegangen sein?

Halten wir uns auch hiefür an Gottfried Semper, denn die Übrigen
haben doch nur im Allgemeinen wiederholt, was jener noch verhältniss-
mässig am deutlichsten ausgesprochen und am anschaulichsten gedacht
hat. Die entscheidende Stelle findet sich im I. Bande des Stil S. 213.
Nachdem er da von dem geflochtenen Zaun als ursprünglichstem ver-
tikalen Raumabschluss, als der ältesten Wand gesprochen hatte, fährt
er fort: "von dem Flechten der Zweige ist der Übergang zum Flechten
des Bastes leicht und natürlich. Von da kam man auf die Erfindung
des Webens, zuerst mit Grashalmen oder natürlichen Pflanzenfasern,
hernach mit gesponnenen Fäden aus vegetabilischen oder thierischen
Stoffen. Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veran-
lasste bald ihre Benutzung nach abwechselnder Ordnung und so ent-
stand das Muster."

Der letzte Satz ist für uns der entscheidende. Semper drückt sich
darin zwar nicht bestimmt aus, ob er die Entstehung des Musters bereits
in die Flechterei, oder erst in die von ihm als eine höhere Stufe der
Entwicklung aufgefasste Weberei versetzt. Infolgedessen unterlässt er
es auch seine Vorstellung von dem fraglichen Vorgange an einem kon-
kreten Beispiele zu erläutern. Aber so viel geht aus seinen Worten
hervor, dass er selbst die Dazwischenkunft eines nichtmateriellen Fak-
tors nicht zu läugnen vermag. "Die Verschiedenheit der natürlichen
Farben der Halme veranlasste bald ihre Benutzung nach abwech-
selnder Ordnung
." Also nicht der reine Zufall hat das erste Muster
in die Welt gesetzt, sondern der Mensch nahm eine bewusste ("veran-
lasste") Auswahl verschiedenfarbiger Halme vor, deren Verflechtung in
rhythmischer Abwechslung ("abwechselnder Ordnung") sodann zum
Muster geführt hat. Es wird dem Menschen damit ausdrücklich ein
kunstschöpferischer Gedanke bei dem ganzen Vorgange zugebilligt.
Die Stellen in denen sich Semper zur technisch-materiellen Auffassung
in direkten Widerspruch setzt, sind übrigens im Stil gar nicht so selten.
Eine ganz fundamentale dieser Art, noch dazu wiederholt vorgebracht,
werden wir weiter unten kennen lernen.

Einen näheren Nachweis im Einzelnen, wie die gangbarsten
Motive des geometrischen Stils auf dem Wege zufälliger Fadenverflech-

Der geometrische Stil.
prüfen. In diesem Capitel über den geometrischen Stil haben wir es
bloss mit der Ableitung der geradlinigen geometrischen Motive aus den
textilen Techniken zu thun.

Auf welche Weise sollen nun die Motive des geometrischen Stils
aus den textilen Techniken hervorgegangen sein?

Halten wir uns auch hiefür an Gottfried Semper, denn die Übrigen
haben doch nur im Allgemeinen wiederholt, was jener noch verhältniss-
mässig am deutlichsten ausgesprochen und am anschaulichsten gedacht
hat. Die entscheidende Stelle findet sich im I. Bande des Stil S. 213.
Nachdem er da von dem geflochtenen Zaun als ursprünglichstem ver-
tikalen Raumabschluss, als der ältesten Wand gesprochen hatte, fährt
er fort: „von dem Flechten der Zweige ist der Übergang zum Flechten
des Bastes leicht und natürlich. Von da kam man auf die Erfindung
des Webens, zuerst mit Grashalmen oder natürlichen Pflanzenfasern,
hernach mit gesponnenen Fäden aus vegetabilischen oder thierischen
Stoffen. Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veran-
lasste bald ihre Benutzung nach abwechselnder Ordnung und so ent-
stand das Muster.“

Der letzte Satz ist für uns der entscheidende. Semper drückt sich
darin zwar nicht bestimmt aus, ob er die Entstehung des Musters bereits
in die Flechterei, oder erst in die von ihm als eine höhere Stufe der
Entwicklung aufgefasste Weberei versetzt. Infolgedessen unterlässt er
es auch seine Vorstellung von dem fraglichen Vorgange an einem kon-
kreten Beispiele zu erläutern. Aber so viel geht aus seinen Worten
hervor, dass er selbst die Dazwischenkunft eines nichtmateriellen Fak-
tors nicht zu läugnen vermag. „Die Verschiedenheit der natürlichen
Farben der Halme veranlasste bald ihre Benutzung nach abwech-
selnder Ordnung
.“ Also nicht der reine Zufall hat das erste Muster
in die Welt gesetzt, sondern der Mensch nahm eine bewusste („veran-
lasste“) Auswahl verschiedenfarbiger Halme vor, deren Verflechtung in
rhythmischer Abwechslung („abwechselnder Ordnung“) sodann zum
Muster geführt hat. Es wird dem Menschen damit ausdrücklich ein
kunstschöpferischer Gedanke bei dem ganzen Vorgange zugebilligt.
Die Stellen in denen sich Semper zur technisch-materiellen Auffassung
in direkten Widerspruch setzt, sind übrigens im Stil gar nicht so selten.
Eine ganz fundamentale dieser Art, noch dazu wiederholt vorgebracht,
werden wir weiter unten kennen lernen.

Einen näheren Nachweis im Einzelnen, wie die gangbarsten
Motive des geometrischen Stils auf dem Wege zufälliger Fadenverflech-

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[13/0039] Der geometrische Stil. prüfen. In diesem Capitel über den geometrischen Stil haben wir es bloss mit der Ableitung der geradlinigen geometrischen Motive aus den textilen Techniken zu thun. Auf welche Weise sollen nun die Motive des geometrischen Stils aus den textilen Techniken hervorgegangen sein? Halten wir uns auch hiefür an Gottfried Semper, denn die Übrigen haben doch nur im Allgemeinen wiederholt, was jener noch verhältniss- mässig am deutlichsten ausgesprochen und am anschaulichsten gedacht hat. Die entscheidende Stelle findet sich im I. Bande des Stil S. 213. Nachdem er da von dem geflochtenen Zaun als ursprünglichstem ver- tikalen Raumabschluss, als der ältesten Wand gesprochen hatte, fährt er fort: „von dem Flechten der Zweige ist der Übergang zum Flechten des Bastes leicht und natürlich. Von da kam man auf die Erfindung des Webens, zuerst mit Grashalmen oder natürlichen Pflanzenfasern, hernach mit gesponnenen Fäden aus vegetabilischen oder thierischen Stoffen. Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veran- lasste bald ihre Benutzung nach abwechselnder Ordnung und so ent- stand das Muster.“ Der letzte Satz ist für uns der entscheidende. Semper drückt sich darin zwar nicht bestimmt aus, ob er die Entstehung des Musters bereits in die Flechterei, oder erst in die von ihm als eine höhere Stufe der Entwicklung aufgefasste Weberei versetzt. Infolgedessen unterlässt er es auch seine Vorstellung von dem fraglichen Vorgange an einem kon- kreten Beispiele zu erläutern. Aber so viel geht aus seinen Worten hervor, dass er selbst die Dazwischenkunft eines nichtmateriellen Fak- tors nicht zu läugnen vermag. „Die Verschiedenheit der natürlichen Farben der Halme veranlasste bald ihre Benutzung nach abwech- selnder Ordnung.“ Also nicht der reine Zufall hat das erste Muster in die Welt gesetzt, sondern der Mensch nahm eine bewusste („veran- lasste“) Auswahl verschiedenfarbiger Halme vor, deren Verflechtung in rhythmischer Abwechslung („abwechselnder Ordnung“) sodann zum Muster geführt hat. Es wird dem Menschen damit ausdrücklich ein kunstschöpferischer Gedanke bei dem ganzen Vorgange zugebilligt. Die Stellen in denen sich Semper zur technisch-materiellen Auffassung in direkten Widerspruch setzt, sind übrigens im Stil gar nicht so selten. Eine ganz fundamentale dieser Art, noch dazu wiederholt vorgebracht, werden wir weiter unten kennen lernen. Einen näheren Nachweis im Einzelnen, wie die gangbarsten Motive des geometrischen Stils auf dem Wege zufälliger Fadenverflech-

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/39>, abgerufen am 24.04.2024.