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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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Der geometrische Stil.
Schranken und Vortheile, die die verschiedenen der Ausführung
sich darbietenden Stoffe für formales Schaffen mit sich führen und ge-
statten."

So vorsichtig drückte sich der Autor aus, der, Künstler und Ge-
lehrter zugleich, in höherem Maasse als irgend Einer seines Jahrhunderts
die technischen Proceduren des Kunstschaffens in ihrer Gesammtheit
und ihren Wechselbeziehungen überblickte und umfasste. Es geht auch
aus seinen obcitirten Worten hervor, dass er sich die formenbildende
Thätigkeit der "Technik" im Wesentlichen erst in vorgerücktere Zeiten
der Kunstentwicklung verlegt denkt, und nicht in die ersten Anfänge
des Kunstschaffens überhaupt. Und dies ist auch meine Überzeugung.
Nichts liegt mir ferner als die Bedeutung der technischen Proceduren
für die Um- und Fortbildung gewisser Ornamentmotive zu läugnen.
Uns in dieser Beziehung die Augen geöffnet zu haben, wird immer ein
unvergängliches Verdienst Gottfried Semper's bleiben. Wenn dieser
Punkt im Folgenden nicht besonders verfolgt oder öfter betont sein wird,
so mag man dies aus dem Umstande erklären, dass ich mir eben die
besondere Aufgabe gestellt habe, die von der Technik unverdienter-
maassen in Anspruch genommene schöpferische Bedeutsamkeit auf
anderem Gebiete, auf demjenigen der ältesten erstgeschaffenen Kunst-
formen, zu brechen. Es fällt mir darum nicht bei, der kunstmateria-
listischen Bewegung der letzten 20 Jahre allen Werth und alle Bedeutung
abzusprechen, oder gar damit eine Kritik der Lehre Darwin's und seiner
Nachfolger zu beabsichtigen. Dass die Theorie von der technisch-
materiellen Entstehung aller künstlerischen Urformen eine Phase der
archäologischen Wissenschaft bedeutet die, wie die Verhältnisse lagen,
nothwendigermaassen einmal durchgemacht werden musste, dafür bürgen
schon die Namen ihrer ersten Bahnbrecher, Semper's und Conze's, und
dafür zeugt nicht minder die schrankenlose Verbreitung, die dieselbe
sofort in Alldeutschland und weit darüber hinaus gefunden hat. Nun
scheint es mir aber an der Zeit sich einzugestehen, dass wir uns in
Sachen der Kunst in der angedeuteten Richtung viel zu weit vorgewagt
haben, und dass gewichtige Bedenken, die ich im Nachfolgenden ent-
wickeln werde, es uns nahelegen, mit der Tendenz, die elementarsten
Kunstschöpfungen des Menschen aus stofflich-technischen Prämissen zu
erklären, den Rückzug anzutreten.

Es wird sich in den folgenden Capiteln dieses Buches wiederholt
Gelegenheit ergeben, die Stichhaltigkeit der bisher versuchten tech-
nisch-materiellen Erklärungen und Ableitungen einzelner Ornamente zu

Der geometrische Stil.
Schranken und Vortheile, die die verschiedenen der Ausführung
sich darbietenden Stoffe für formales Schaffen mit sich führen und ge-
statten.“

So vorsichtig drückte sich der Autor aus, der, Künstler und Ge-
lehrter zugleich, in höherem Maasse als irgend Einer seines Jahrhunderts
die technischen Proceduren des Kunstschaffens in ihrer Gesammtheit
und ihren Wechselbeziehungen überblickte und umfasste. Es geht auch
aus seinen obcitirten Worten hervor, dass er sich die formenbildende
Thätigkeit der „Technik“ im Wesentlichen erst in vorgerücktere Zeiten
der Kunstentwicklung verlegt denkt, und nicht in die ersten Anfänge
des Kunstschaffens überhaupt. Und dies ist auch meine Überzeugung.
Nichts liegt mir ferner als die Bedeutung der technischen Proceduren
für die Um- und Fortbildung gewisser Ornamentmotive zu läugnen.
Uns in dieser Beziehung die Augen geöffnet zu haben, wird immer ein
unvergängliches Verdienst Gottfried Semper’s bleiben. Wenn dieser
Punkt im Folgenden nicht besonders verfolgt oder öfter betont sein wird,
so mag man dies aus dem Umstande erklären, dass ich mir eben die
besondere Aufgabe gestellt habe, die von der Technik unverdienter-
maassen in Anspruch genommene schöpferische Bedeutsamkeit auf
anderem Gebiete, auf demjenigen der ältesten erstgeschaffenen Kunst-
formen, zu brechen. Es fällt mir darum nicht bei, der kunstmateria-
listischen Bewegung der letzten 20 Jahre allen Werth und alle Bedeutung
abzusprechen, oder gar damit eine Kritik der Lehre Darwin’s und seiner
Nachfolger zu beabsichtigen. Dass die Theorie von der technisch-
materiellen Entstehung aller künstlerischen Urformen eine Phase der
archäologischen Wissenschaft bedeutet die, wie die Verhältnisse lagen,
nothwendigermaassen einmal durchgemacht werden musste, dafür bürgen
schon die Namen ihrer ersten Bahnbrecher, Semper’s und Conze’s, und
dafür zeugt nicht minder die schrankenlose Verbreitung, die dieselbe
sofort in Alldeutschland und weit darüber hinaus gefunden hat. Nun
scheint es mir aber an der Zeit sich einzugestehen, dass wir uns in
Sachen der Kunst in der angedeuteten Richtung viel zu weit vorgewagt
haben, und dass gewichtige Bedenken, die ich im Nachfolgenden ent-
wickeln werde, es uns nahelegen, mit der Tendenz, die elementarsten
Kunstschöpfungen des Menschen aus stofflich-technischen Prämissen zu
erklären, den Rückzug anzutreten.

Es wird sich in den folgenden Capiteln dieses Buches wiederholt
Gelegenheit ergeben, die Stichhaltigkeit der bisher versuchten tech-
nisch-materiellen Erklärungen und Ableitungen einzelner Ornamente zu

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[12/0038] Der geometrische Stil. Schranken und Vortheile, die die verschiedenen der Ausführung sich darbietenden Stoffe für formales Schaffen mit sich führen und ge- statten.“ So vorsichtig drückte sich der Autor aus, der, Künstler und Ge- lehrter zugleich, in höherem Maasse als irgend Einer seines Jahrhunderts die technischen Proceduren des Kunstschaffens in ihrer Gesammtheit und ihren Wechselbeziehungen überblickte und umfasste. Es geht auch aus seinen obcitirten Worten hervor, dass er sich die formenbildende Thätigkeit der „Technik“ im Wesentlichen erst in vorgerücktere Zeiten der Kunstentwicklung verlegt denkt, und nicht in die ersten Anfänge des Kunstschaffens überhaupt. Und dies ist auch meine Überzeugung. Nichts liegt mir ferner als die Bedeutung der technischen Proceduren für die Um- und Fortbildung gewisser Ornamentmotive zu läugnen. Uns in dieser Beziehung die Augen geöffnet zu haben, wird immer ein unvergängliches Verdienst Gottfried Semper’s bleiben. Wenn dieser Punkt im Folgenden nicht besonders verfolgt oder öfter betont sein wird, so mag man dies aus dem Umstande erklären, dass ich mir eben die besondere Aufgabe gestellt habe, die von der Technik unverdienter- maassen in Anspruch genommene schöpferische Bedeutsamkeit auf anderem Gebiete, auf demjenigen der ältesten erstgeschaffenen Kunst- formen, zu brechen. Es fällt mir darum nicht bei, der kunstmateria- listischen Bewegung der letzten 20 Jahre allen Werth und alle Bedeutung abzusprechen, oder gar damit eine Kritik der Lehre Darwin’s und seiner Nachfolger zu beabsichtigen. Dass die Theorie von der technisch- materiellen Entstehung aller künstlerischen Urformen eine Phase der archäologischen Wissenschaft bedeutet die, wie die Verhältnisse lagen, nothwendigermaassen einmal durchgemacht werden musste, dafür bürgen schon die Namen ihrer ersten Bahnbrecher, Semper’s und Conze’s, und dafür zeugt nicht minder die schrankenlose Verbreitung, die dieselbe sofort in Alldeutschland und weit darüber hinaus gefunden hat. Nun scheint es mir aber an der Zeit sich einzugestehen, dass wir uns in Sachen der Kunst in der angedeuteten Richtung viel zu weit vorgewagt haben, und dass gewichtige Bedenken, die ich im Nachfolgenden ent- wickeln werde, es uns nahelegen, mit der Tendenz, die elementarsten Kunstschöpfungen des Menschen aus stofflich-technischen Prämissen zu erklären, den Rückzug anzutreten. Es wird sich in den folgenden Capiteln dieses Buches wiederholt Gelegenheit ergeben, die Stichhaltigkeit der bisher versuchten tech- nisch-materiellen Erklärungen und Ableitungen einzelner Ornamente zu

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/38>, abgerufen am 23.11.2024.