Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Arabeske.
autochthonen lokalen Entwicklung zu erblicken, oder die Wurzel für
ihre Entstehung muss ausserhalb der persischen und saracenischen
Kunst zu suchen sein. Die erstere Annahme hat auch bis zum heuti-
gen Tage -- entsprechend der allgemeinen Stimmung der Zeit -- die
grösste Anzahl von Anhängern gezählt. Wir werden für diese angeb-
lich national-persische Ornamentik eine Entstehung aus dem Nichts,
oder aus unbekannten technischen Prämissen ebensowenig zugeben kön-
nen, wie wir es bisher irgendwann für zulässig gefunden haben. Bleibt
somit bloss die Ausschau nach anderen historischen Kunstgebieten und
zwar naturgemäss wieder nach dem nächstgelegenen.

Was wir schon durch den Hinweis auf die akanthisirende Ge-
staltung der Blattränder und auf die emporgekrümmte Bewegung der

[Abbildung] Fig. 196.

Kelchpalmette vom Mosaik der Omar-Moschee
zu Jerusalem.

gleichsam zusammengeklappten Blät-
ter der Kelchpalmette vernehmlich an-
gedeutet haben, giebt die Erklärung
für das ganze Genre: es sind blü-
thenförmige Kombinationen von
Akanthusblättern
, ähnlich den Bil-
dungen, wie wir sie gemäss unseren
Ausführungen auf S. 325 bereits von
römischer Zeit ab nachweisen konn-
ten; für die Kelchpalmette lässt sich
der Entwicklungsgang sogar ziemlich
genau herstellen. Den Ausgangspunkt
geben persische Bildungen aus der
Sassanidenzeit (Fig. 161). Den römi-
schen Charakter haben wir auf S. 299
zur Genüge klargestellt; wenn noch
ein Zweifel übrig bliebe, ob wir die-
selben nicht doch als Produkte national-persischer Kunst ansehen sollten,
so erscheint derselbe beseitigt durch den Umstand, dass die Kelchpalmette
in frühmittelalterlicher Zeit auch ausserhalb Persiens vorkommt, und
zwar auf den noch vor Schluss des 7. Jahrh. angefertigten Mosaiken
der Omar-Moschee zu Jerusalem (Fig. 196)94), die man gemeiniglich als
Werk byzantinischer Künstler anzusehen pflegt. Aus der späteren
Entwicklung sind es Bildungen der byzantinischen Kunst gleich
Fig. 180--185, die mit dem Motiv der Kelchpalmette dem Wesen nach

94) Nach de Vogüe, Temple de Jerusalem Taf. XXI.

Die Arabeske.
autochthonen lokalen Entwicklung zu erblicken, oder die Wurzel für
ihre Entstehung muss ausserhalb der persischen und saracenischen
Kunst zu suchen sein. Die erstere Annahme hat auch bis zum heuti-
gen Tage — entsprechend der allgemeinen Stimmung der Zeit — die
grösste Anzahl von Anhängern gezählt. Wir werden für diese angeb-
lich national-persische Ornamentik eine Entstehung aus dem Nichts,
oder aus unbekannten technischen Prämissen ebensowenig zugeben kön-
nen, wie wir es bisher irgendwann für zulässig gefunden haben. Bleibt
somit bloss die Ausschau nach anderen historischen Kunstgebieten und
zwar naturgemäss wieder nach dem nächstgelegenen.

Was wir schon durch den Hinweis auf die akanthisirende Ge-
staltung der Blattränder und auf die emporgekrümmte Bewegung der

[Abbildung] Fig. 196.

Kelchpalmette vom Mosaik der Omar-Moschee
zu Jerusalem.

gleichsam zusammengeklappten Blät-
ter der Kelchpalmette vernehmlich an-
gedeutet haben, giebt die Erklärung
für das ganze Genre: es sind blü-
thenförmige Kombinationen von
Akanthusblättern
, ähnlich den Bil-
dungen, wie wir sie gemäss unseren
Ausführungen auf S. 325 bereits von
römischer Zeit ab nachweisen konn-
ten; für die Kelchpalmette lässt sich
der Entwicklungsgang sogar ziemlich
genau herstellen. Den Ausgangspunkt
geben persische Bildungen aus der
Sassanidenzeit (Fig. 161). Den römi-
schen Charakter haben wir auf S. 299
zur Genüge klargestellt; wenn noch
ein Zweifel übrig bliebe, ob wir die-
selben nicht doch als Produkte national-persischer Kunst ansehen sollten,
so erscheint derselbe beseitigt durch den Umstand, dass die Kelchpalmette
in frühmittelalterlicher Zeit auch ausserhalb Persiens vorkommt, und
zwar auf den noch vor Schluss des 7. Jahrh. angefertigten Mosaiken
der Omar-Moschee zu Jerusalem (Fig. 196)94), die man gemeiniglich als
Werk byzantinischer Künstler anzusehen pflegt. Aus der späteren
Entwicklung sind es Bildungen der byzantinischen Kunst gleich
Fig. 180—185, die mit dem Motiv der Kelchpalmette dem Wesen nach

94) Nach de Vogüé, Temple de Jerusalem Taf. XXI.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0368" n="342"/><fw place="top" type="header">Die Arabeske.</fw><lb/>
autochthonen lokalen Entwicklung zu erblicken, oder die Wurzel für<lb/>
ihre Entstehung muss ausserhalb der persischen und saracenischen<lb/>
Kunst zu suchen sein. Die erstere Annahme hat auch bis zum heuti-<lb/>
gen Tage &#x2014; entsprechend der allgemeinen Stimmung der Zeit &#x2014; die<lb/>
grösste Anzahl von Anhängern gezählt. Wir werden für diese angeb-<lb/>
lich national-persische Ornamentik eine Entstehung aus dem Nichts,<lb/>
oder aus unbekannten technischen Prämissen ebensowenig zugeben kön-<lb/>
nen, wie wir es bisher irgendwann für zulässig gefunden haben. Bleibt<lb/>
somit bloss die Ausschau nach anderen historischen Kunstgebieten und<lb/>
zwar naturgemäss wieder nach dem nächstgelegenen.</p><lb/>
          <p>Was wir schon durch den Hinweis auf die akanthisirende Ge-<lb/>
staltung der Blattränder und auf die emporgekrümmte Bewegung der<lb/><figure><head>Fig. 196.</head><lb/><p>Kelchpalmette vom Mosaik der Omar-Moschee<lb/>
zu Jerusalem.</p></figure><lb/>
gleichsam zusammengeklappten Blät-<lb/>
ter der Kelchpalmette vernehmlich an-<lb/>
gedeutet haben, giebt die Erklärung<lb/>
für das ganze Genre: es sind <hi rendition="#g">blü-<lb/>
thenförmige Kombinationen von<lb/>
Akanthusblättern</hi>, ähnlich den Bil-<lb/>
dungen, wie wir sie gemäss unseren<lb/>
Ausführungen auf S. 325 bereits von<lb/>
römischer Zeit ab nachweisen konn-<lb/>
ten; für die Kelchpalmette lässt sich<lb/>
der Entwicklungsgang sogar ziemlich<lb/>
genau herstellen. Den Ausgangspunkt<lb/>
geben persische Bildungen aus der<lb/>
Sassanidenzeit (Fig. 161). Den römi-<lb/>
schen Charakter haben wir auf S. 299<lb/>
zur Genüge klargestellt; wenn noch<lb/>
ein Zweifel übrig bliebe, ob wir die-<lb/>
selben nicht doch als Produkte national-persischer Kunst ansehen sollten,<lb/>
so erscheint derselbe beseitigt durch den Umstand, dass die Kelchpalmette<lb/>
in frühmittelalterlicher Zeit auch ausserhalb Persiens vorkommt, und<lb/>
zwar auf den noch vor Schluss des 7. Jahrh. angefertigten Mosaiken<lb/>
der Omar-Moschee zu Jerusalem (Fig. 196)<note place="foot" n="94)">Nach de Vogüé, Temple de Jerusalem Taf. XXI.</note>, die man gemeiniglich als<lb/>
Werk byzantinischer Künstler anzusehen pflegt. Aus der späteren<lb/>
Entwicklung sind es Bildungen der byzantinischen Kunst gleich<lb/>
Fig. 180&#x2014;185, die mit dem Motiv der Kelchpalmette dem Wesen nach<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[342/0368] Die Arabeske. autochthonen lokalen Entwicklung zu erblicken, oder die Wurzel für ihre Entstehung muss ausserhalb der persischen und saracenischen Kunst zu suchen sein. Die erstere Annahme hat auch bis zum heuti- gen Tage — entsprechend der allgemeinen Stimmung der Zeit — die grösste Anzahl von Anhängern gezählt. Wir werden für diese angeb- lich national-persische Ornamentik eine Entstehung aus dem Nichts, oder aus unbekannten technischen Prämissen ebensowenig zugeben kön- nen, wie wir es bisher irgendwann für zulässig gefunden haben. Bleibt somit bloss die Ausschau nach anderen historischen Kunstgebieten und zwar naturgemäss wieder nach dem nächstgelegenen. Was wir schon durch den Hinweis auf die akanthisirende Ge- staltung der Blattränder und auf die emporgekrümmte Bewegung der [Abbildung Fig. 196. Kelchpalmette vom Mosaik der Omar-Moschee zu Jerusalem.] gleichsam zusammengeklappten Blät- ter der Kelchpalmette vernehmlich an- gedeutet haben, giebt die Erklärung für das ganze Genre: es sind blü- thenförmige Kombinationen von Akanthusblättern, ähnlich den Bil- dungen, wie wir sie gemäss unseren Ausführungen auf S. 325 bereits von römischer Zeit ab nachweisen konn- ten; für die Kelchpalmette lässt sich der Entwicklungsgang sogar ziemlich genau herstellen. Den Ausgangspunkt geben persische Bildungen aus der Sassanidenzeit (Fig. 161). Den römi- schen Charakter haben wir auf S. 299 zur Genüge klargestellt; wenn noch ein Zweifel übrig bliebe, ob wir die- selben nicht doch als Produkte national-persischer Kunst ansehen sollten, so erscheint derselbe beseitigt durch den Umstand, dass die Kelchpalmette in frühmittelalterlicher Zeit auch ausserhalb Persiens vorkommt, und zwar auf den noch vor Schluss des 7. Jahrh. angefertigten Mosaiken der Omar-Moschee zu Jerusalem (Fig. 196) 94), die man gemeiniglich als Werk byzantinischer Künstler anzusehen pflegt. Aus der späteren Entwicklung sind es Bildungen der byzantinischen Kunst gleich Fig. 180—185, die mit dem Motiv der Kelchpalmette dem Wesen nach 94) Nach de Vogüé, Temple de Jerusalem Taf. XXI.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/368
Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/368>, abgerufen am 05.05.2024.