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Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893.

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2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Kleinen wiederholenden Kern legen sich äusserlich einige Blätter an,
die von unten emporwachsen und in undulirender Bewegung, an die
Fächer der gesprengten Palmette erinnernd, emporstreben. In die
spitzen Winkel, die zwischen je zweien dieser Blätter einspringen,
erscheinen zwickelfüllende Blätter mit akanthisirend behandelten Rän-
dern eingesetzt. Wir wollen der Kürze halber für das ganze Motiv
in seiner Grundform die Bezeichnung Kelchpalmette gebrauchen.

Das eben erörterte Motiv kehrt noch mehrmals wieder. So in der
Mitte einer jeden Wellenschwingung, wo die den Kern kelchförmig ein-
schliessenden, ausgeschweiften Blätter an den Rändern gleichsam zu-
sammengeklappt
und akanthisirend behandelt sind. Ferner im
Innern des zur Ecklösung verwendeten Spitzovals, hier umschlossen
von einem äusseren Kranz von Blättern, die nicht minder fein aus-
gezackte Ränder zeigen. Kehren wir aber zur Wellenschwingung
zurück, so fallen daselbst neben der erwähnten Kelchpalmette noch
zwei grössere, häufig wiederkehrende Blüthenmotive auf: oben ein
flacher, ausgezackter, oblonger Teller, aus dem sich der Blüthenkolben
erhebt: die sogen. Fächerpalmette, unten hingegen eine Kranzpalmette,
die sich von der Kelchpalmette wesentlich dadurch unterscheidet, dass
die den Kern umgebenden Blätter um denselben nicht kelchartig
herumgeschlagen und in geschweifte Spitzen auslaufend, sondern
gleich einem Kranz herumgereiht und in geraden Achsen geführt er-
scheinen.

Charakteristisch für diese Motive bleibt die eigenthümliche Stili-
sirung der Blattränder
. Und zwar muss dieselbe für ganz wesentlich
angesehen worden sein, weil sie uns fast an allen den genannten Motiven,
an dem einen mehr, an dem anderen minder scharf gezeichnet, entgegen-
tritt. Um eine historische Erklärung dafür zu finden, liegt es am nächsten,
die arabesken Blüthenmotive der vorhergehenden, mittelalterlichen Kunst
heranzuziehen und zu untersuchen, ob es nicht diese gewesen sein
könnten, aus denen jene oben beschriebenen "Palmetten", etwa unter
dem Einflusse einer gegen Ende des Mittelalters in der orientalischen
Kunst aufgekommenen Neigung zur Naturalisirung, entstanden sein
möchten. Aber auf Grund einer Betrachtung des typischen Arabesken-
musters von Fig. 139 werden wir kaum in der Lage sein, daraus die
naturalisirenden Palmetten jenes persischen Teppichs im Wege direkter
künstlerischer Formen-Entwicklung und Umbildung abzuleiten. Es
bleiben hiernach bloss zwei Möglichkeiten offen: entweder haben wir in
den fraglichen Motiven etwas specifisch Persisches, das Produkt einer

2. Frühsaracenische Rankenornamentik.
Kleinen wiederholenden Kern legen sich äusserlich einige Blätter an,
die von unten emporwachsen und in undulirender Bewegung, an die
Fächer der gesprengten Palmette erinnernd, emporstreben. In die
spitzen Winkel, die zwischen je zweien dieser Blätter einspringen,
erscheinen zwickelfüllende Blätter mit akanthisirend behandelten Rän-
dern eingesetzt. Wir wollen der Kürze halber für das ganze Motiv
in seiner Grundform die Bezeichnung Kelchpalmette gebrauchen.

Das eben erörterte Motiv kehrt noch mehrmals wieder. So in der
Mitte einer jeden Wellenschwingung, wo die den Kern kelchförmig ein-
schliessenden, ausgeschweiften Blätter an den Rändern gleichsam zu-
sammengeklappt
und akanthisirend behandelt sind. Ferner im
Innern des zur Ecklösung verwendeten Spitzovals, hier umschlossen
von einem äusseren Kranz von Blättern, die nicht minder fein aus-
gezackte Ränder zeigen. Kehren wir aber zur Wellenschwingung
zurück, so fallen daselbst neben der erwähnten Kelchpalmette noch
zwei grössere, häufig wiederkehrende Blüthenmotive auf: oben ein
flacher, ausgezackter, oblonger Teller, aus dem sich der Blüthenkolben
erhebt: die sogen. Fächerpalmette, unten hingegen eine Kranzpalmette,
die sich von der Kelchpalmette wesentlich dadurch unterscheidet, dass
die den Kern umgebenden Blätter um denselben nicht kelchartig
herumgeschlagen und in geschweifte Spitzen auslaufend, sondern
gleich einem Kranz herumgereiht und in geraden Achsen geführt er-
scheinen.

Charakteristisch für diese Motive bleibt die eigenthümliche Stili-
sirung der Blattränder
. Und zwar muss dieselbe für ganz wesentlich
angesehen worden sein, weil sie uns fast an allen den genannten Motiven,
an dem einen mehr, an dem anderen minder scharf gezeichnet, entgegen-
tritt. Um eine historische Erklärung dafür zu finden, liegt es am nächsten,
die arabesken Blüthenmotive der vorhergehenden, mittelalterlichen Kunst
heranzuziehen und zu untersuchen, ob es nicht diese gewesen sein
könnten, aus denen jene oben beschriebenen „Palmetten“, etwa unter
dem Einflusse einer gegen Ende des Mittelalters in der orientalischen
Kunst aufgekommenen Neigung zur Naturalisirung, entstanden sein
möchten. Aber auf Grund einer Betrachtung des typischen Arabesken-
musters von Fig. 139 werden wir kaum in der Lage sein, daraus die
naturalisirenden Palmetten jenes persischen Teppichs im Wege direkter
künstlerischer Formen-Entwicklung und Umbildung abzuleiten. Es
bleiben hiernach bloss zwei Möglichkeiten offen: entweder haben wir in
den fraglichen Motiven etwas specifisch Persisches, das Produkt einer

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[341/0367] 2. Frühsaracenische Rankenornamentik. Kleinen wiederholenden Kern legen sich äusserlich einige Blätter an, die von unten emporwachsen und in undulirender Bewegung, an die Fächer der gesprengten Palmette erinnernd, emporstreben. In die spitzen Winkel, die zwischen je zweien dieser Blätter einspringen, erscheinen zwickelfüllende Blätter mit akanthisirend behandelten Rän- dern eingesetzt. Wir wollen der Kürze halber für das ganze Motiv in seiner Grundform die Bezeichnung Kelchpalmette gebrauchen. Das eben erörterte Motiv kehrt noch mehrmals wieder. So in der Mitte einer jeden Wellenschwingung, wo die den Kern kelchförmig ein- schliessenden, ausgeschweiften Blätter an den Rändern gleichsam zu- sammengeklappt und akanthisirend behandelt sind. Ferner im Innern des zur Ecklösung verwendeten Spitzovals, hier umschlossen von einem äusseren Kranz von Blättern, die nicht minder fein aus- gezackte Ränder zeigen. Kehren wir aber zur Wellenschwingung zurück, so fallen daselbst neben der erwähnten Kelchpalmette noch zwei grössere, häufig wiederkehrende Blüthenmotive auf: oben ein flacher, ausgezackter, oblonger Teller, aus dem sich der Blüthenkolben erhebt: die sogen. Fächerpalmette, unten hingegen eine Kranzpalmette, die sich von der Kelchpalmette wesentlich dadurch unterscheidet, dass die den Kern umgebenden Blätter um denselben nicht kelchartig herumgeschlagen und in geschweifte Spitzen auslaufend, sondern gleich einem Kranz herumgereiht und in geraden Achsen geführt er- scheinen. Charakteristisch für diese Motive bleibt die eigenthümliche Stili- sirung der Blattränder. Und zwar muss dieselbe für ganz wesentlich angesehen worden sein, weil sie uns fast an allen den genannten Motiven, an dem einen mehr, an dem anderen minder scharf gezeichnet, entgegen- tritt. Um eine historische Erklärung dafür zu finden, liegt es am nächsten, die arabesken Blüthenmotive der vorhergehenden, mittelalterlichen Kunst heranzuziehen und zu untersuchen, ob es nicht diese gewesen sein könnten, aus denen jene oben beschriebenen „Palmetten“, etwa unter dem Einflusse einer gegen Ende des Mittelalters in der orientalischen Kunst aufgekommenen Neigung zur Naturalisirung, entstanden sein möchten. Aber auf Grund einer Betrachtung des typischen Arabesken- musters von Fig. 139 werden wir kaum in der Lage sein, daraus die naturalisirenden Palmetten jenes persischen Teppichs im Wege direkter künstlerischer Formen-Entwicklung und Umbildung abzuleiten. Es bleiben hiernach bloss zwei Möglichkeiten offen: entweder haben wir in den fraglichen Motiven etwas specifisch Persisches, das Produkt einer

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Zitationshilfe: Riegl, Alois: Stilfragen. Berlin, 1893, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/riegl_stilfragen_1893/367>, abgerufen am 05.05.2024.